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Kanada: Zwischen Ethik, Exzellenz und Expansion
Kanada investiert Milliarden in die KI-Infrastruktur und -Forschung. Deutschen Unternehmen bietet das Land ein innovationsfreundliches Umfeld mit europäisch geprägten Werten.
03.11.2025
Von Heiko Steinacher | Toronto
Kanada zählt zu den Pionieren bei künstlicher Intelligenz (KI): Bereits 2017 verabschiedete es als eines der ersten Länder weltweit eine nationale KI-Strategie. Die Pan-Canadian Artificial Intelligence Strategy setzt auf ethische Standards, Talentförderung und exzellente Forschung. Herzstück sind die Innovationscluster – allen voran Scale AI in Montréal, das bereits über 120 Projekte zu KI-gestützten Lieferkettenlösungen angestoßen hat (siehe Infokasten).
Im Dezember 2024 legte die Regierung nach und kündigte milliardenschwere Investitionen in nationale Rechenkapazitäten an. Ziel ist es, kanadischen Unternehmen und Forschern Zugang zu Hochleistungsrechnern und Datensouveränität zu sichern. Bislang sind viele Akteure auf Cloud-Anbieter aus dem Ausland angewiesen, vor allem aus den USA und China. Denn moderne KI-Modelle benötigen enorme Rechenressourcen. Ohne eigene, skalierbare Infrastruktur lässt sich keine eigenständige KI-Wertschöpfungskette aufbauen. Genau das strebt Kanada aber an.
Rechenzentren für KI-Souveränität
Trotz starker Forschung – etwa an den auf KI spezialisierten Instituten Mila in Montréal, Amii in Edmonton oder dem Vector Institute in Toronto – fehlt es Kanada bislang an skalierbarer Infrastruktur. Die Nutzung ausländischer Clouds birgt zudem Risiken für sensible Daten. Hinzu kommt, dass der Zugang zu Rechenleistung für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) oft kostspielig ist. Die Folge: KI-Innovationen lassen sich schwerer kommerzialisieren.
Das Start-up Cohere aus Toronto, spezialisiert auf große Sprachmodelle, soll nun ein nationales KI-Rechenzentrum aufbauen – gefördert mit rund 176 Millionen US-Dollar (US$). Es soll nicht nur Forschung und Industrie, sondern auch Start-ups und KMU zugänglich sein. Sensible Daten können dadurch künftig innerhalb Kanadas verarbeitet werden – eine wichtige Voraussetzung für eine eigenständige KI-Wertschöpfungskette: von der Forschung bis zur Anwendung.
Auch große Telekommunikationsanbieter investieren: Telus plant zwei "Sovereign AI Factories" – also vollständig in Kanada betriebene, nachhaltige KI-Infrastrukturen – in Québec und British Columbia. "Damit erhalten kanadische Firmen und Forschende Zugang zu einer hochmodernen KI-Infrastruktur, um ihre kühnen Ideen in echte Durchbrüche zu verwandeln", sagt IT-Chef Hesham Fahmy. "Und dafür müssen sie nicht mehr über unsere Grenzen hinausschauen." Konkurrent Bell will mit dem Projekt "AI Fabric" ein landesweites Netz von Rechenzentren aufbauen. Dafür haben sich die Kanadier mit zwei Technologieunternehmen aus dem Silicon Valley zusammengetan: Telus mit Nvidia und Bell mit Groq.
Scale AI investiert in neue Projekte
Das kanadische Spitzencluster AI-Powered Supply Chains Cluster (Scale AI) spezialisiert sich auf KI-gestützte Lieferketten. Im Juli 2025 hat Scale AI Investitionen in Höhe von 72 Millionen US-Dollar angekündigt. Gefördert werden 23 neue KI-Projekte, die den Einsatz der Technologie in verschiedenen Branchen vorantreiben sollen.
Besonders Unternehmen in Québec profitieren: Dort kommen KI-Lösungen etwa bei der Wartungsplanung in der Luftfahrt, für Nachfrageprognosen im Einzelhandel und in automatisierten Recyclinganlagen zum Einsatz.
Die kanadische Regierung setzt bei KI auch auf gezielte Talentförderung. Programme wie das CIFAR AI Chairs Program unterstützen führende KI-Forscher mit langfristiger Finanzierung und ermöglichen so den Aufbau nachhaltiger Forschungsteams. Gleichzeitig werden Bildungsinitiativen gefördert, um KI-Kompetenzen bereits in Schulen und Hochschulen zu verankern.
Auch in der Start-up-Förderung zeigt sich Kanada ambitioniert: Über Programme wie den Strategic Innovation Fund oder regionale Förderinstrumente erhalten junge Firmen Zugang zu Kapital, Mentoring und Pilotprojekten. Dennoch: Obwohl sich die Situation für Start-ups in frühen Phasen leicht gebessert hat, beklagt die Szene weiterhin eine unzureichende Finanzierung durch heimische Business-Angels und Wagniskapitalgeber. Diese erwarten häufig schnelle Renditen.
Chancen bei Forschung und angewandter KI
Für deutsche Firmen bietet Kanada viel Kooperationspotenzial, insbesondere in den Bereichen Forschung und angewandte KI. So errichtet Siemens im "Golden Horseshoe" zwischen Toronto und Waterloo ein globales Forschungs- und Entwicklungszentrum für KI-gestützte Fertigungstechnologien in der Batterieproduktion. Kostenpunkt: rund 110 Millionen US$. Auch SAP ist mit KI-Projekten aktiv, und die Volkswagen-Tochter Powerco dürfte für ihre geplante Batteriefabrik in Ontario ebenfalls auf lokale KI-Kompetenz setzen, etwa in der Produktionsplanung und Qualitätskontrolle.
Zudem zieht Kanada deutsche Start-ups an: TeamViewer und DeepL haben sich bereits angesiedelt, angelockt von der exzellenten Forschungslandschaft und dem Zugang zum nordamerikanischen Markt. Städte wie Toronto, Montréal und Vancouver gelten als Hotspots für KI und Deep Tech.
Datenschutz als Standortvorteil
Ein umfassendes KI-Gesetz gibt es in Kanada bislang nicht. Zwar wurde mit dem Artificial Intelligence and Data Act (AIDA) ein erster Entwurf für eine nationale KI-Regulierung vorgelegt – eingebettet in das größere Gesetzesvorhaben C-27, das auch eine Reform des Datenschutzes vorsah. Doch dieser Entwurf ist Anfang 2025 im parlamentarischen Verfahren gescheitert und wurde nicht verabschiedet. Bis auf Weiteres gelten daher die bestehenden Datenschutzgesetze, insbesondere das bundesweite PIPEDA, ergänzt durch Regelungen in Provinzen wie Québec, Alberta und British Columbia.
Anders als in den USA, wo die Regulierung stark fragmentiert ist, verfolgt Kanada das Ziel, einen einheitlichen nationalen Rahmen für Datenschutz und KI zu schaffen, auch wenn dieser aktuell noch aussteht. Diese Klarheit ist ein Standortvorteil: Während sich US-Unternehmen gegen internationale Vorschriften stemmen, um ihre Innovationsfreiheit zu wahren, orientiert sich Kanada stärker an europäischen Regeln – etwa bei Datenschutz und Transparenz. Für deutsche Firmen bedeutet das: weniger Rechtsunsicherheit, bessere Interoperabilität und geringerer Aufwand bei der Einhaltung von Vorschriften. Kanada positioniert sich als verlässlicher Partner mit ethischem Anspruch und wachsender technologischer Souveränität.
Insgesamt zeigt sich: Kanada verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der ethische Leitlinien, technologische Souveränität und wirtschaftliche Verwertung miteinander verbindet. Für deutsche Firmen – ob Start-up, KMU oder Konzern – bietet das Land nicht nur einen attraktiven Marktzugang, sondern auch ein innovationsfreundliches Umfeld.