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Wirtschaftsumfeld
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Wirtschaftsausblick | Ukraine
Der Krieg lässt die Wirtschaftskraft der Ukraine 2022 um mehr als ein Drittel schrumpfen. Das Land hofft aber auf einen schnellen Wiederaufbau nach einem Friedensschluss.
23.05.2022
Von Gerit Schulze | Berlin
Russlands Invasion hat den positiven Wirtschaftstrend der Ukraine abrupt gestoppt. Die Zerstörung wichtiger Infrastruktur, die Blockade der Seehäfen sowie der Verlust von Arbeitskräften durch Flucht und Einberufung lähmen das Geschäftsleben erheblich. Im März 2022 hatte jedes dritte Unternehmen seine Geschäfte komplett eingestellt, im April waren es laut Nationalbank NBU noch 17 Prozent.
Die Kyiv School of Economics taxiert das Ausmaß der Kriegszerstörungen auf fast 100 Milliarden US-Dollar (US$). Bis Mitte Mai seien 24.000 Kilometer Straßen, 300 Brücken und mehr als 200 Industrieunternehmen beschädigt worden.
Besonders betroffen sind die Kernbranchen Metallurgie und Landwirtschaft. Aufgrund der Hafenblockade kann die Ukraine mehr als die Hälfte ihres Exportvolumens nicht ins Ausland liefern.
Die gesunkenen Steuereinnahmen und höheren Staatsausgaben verursachen monatlich eine Haushaltslücke von 5 Milliarden US-Dollar (US$). Dank externer Hilfen konnte Kiew das Defizit bislang überbrücken.
Erstaunlich robust zeigt sich der Finanzsektor. Die Nationalbank fixierte nach Kriegsbeginn den Wechselkurs bei 29,25 Hrywnja je US$, begrenzte Bargeldabhebungen und führte Kapitalverkehrskontrollen ein.
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) erwartet für 2022 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 30 Prozent. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) rechnet mit einem Minus von 38 Prozent. Die Prognosen hängen vom Verlauf des Krieges ab.
Die Hoffnungen der Ukraine ruhen auf den Finanzzusagen des Westens und einer Wiederauflage des Marshallplans. Wirtschaftsministerin Julia Swiridenko stellte Ende April 2022 eine Roadmap zum Wiederaufbau vor. Angedacht sind eine stärkere Anbindung an die Europäische Union (EU), eine Deregulierung der Wirtschaft und die Begünstigung einheimischer Produkte.
Kommt es noch 2022 zu einem Friedensschluss, könnte das BIP im Folgejahr wieder um 25 Prozent steigen, prognostiziert die EBRD. Nur 5 Prozent Wachstum erwartet dagegen das wiiw. Erst ab 2024 könnten die Wiederaufbauhilfen zu zweistelligen Wachstumsraten führen.
Indikator | 2020 | 2021 | Vergleichsdaten Deutschland 2019 |
---|---|---|---|
BIP (nominal, Mrd. US$) | 155,3 1 | 181 1, 2 | 3.854,4 |
BIP pro Kopf (US$) | 3.741 1 | 4.384 1, 2 | 46.385 |
Bevölkerung (Mio.) | 41,5 3 | 41,3 2, 3 | 83,1 |
Wechselkurs (Jahresdurchschnitt, | 26,96 | 27,38 4 |
Die Unsicherheiten infolge des Angriffskrieges haben das Investitionsklima nachhaltig gestört. Viele Projekte wurden eingestellt oder verschoben. Positive Impulse erhält das Investitionsgeschehen durch die Verlagerung von Industriebetrieben in den Westen des Landes. Das Relokalisierungsprogramm der Regierung nahmen bis Mitte Mai über 500 Unternehmen in Anspruch.
Außerdem subventioniert die Regierung Kredite für kleine und mittelständische Unternehmen. Sie sollen vor allem für Investitionen und zur Fortführung der Produktion genutzt werden.
Experten des wiiw schätzen, dass die Bruttoanlageinvestitionen 2022 dennoch um die Hälfte einbrechen. Erst ab 2024 dürften sie wieder deutlich anziehen, wenn die Gelder aus den Wiederaufbaufonds abgeschöpft werden können.
Neue Investitionsprojekte wurden nach Kriegsausbruch vor allem in den Bereichen Logistik, Nahrungsmittel und Wohnungsbau angekündigt.
Projektbezeichnung | Investitionssumme (Mio. Euro) | Projektstand | Projektträger / Investor |
---|---|---|---|
Post-Sortierzentrum in Odessa | 95 | Bauarbeiten sollen im Sommer 2022 beginnen. | |
Werk für Skiausrüstungen in Winnyzja | 80 | Bau hatte im Frühjahr 2021 begonnen; im Mai 2022 wurden die Arbeiten am Fundament wieder aufgenommen. | |
Bau eines Kühlhauses für Obst und Gemüse im Gebiet Ternopil | 10 | Bauarbeiten laufen, Inbetriebnahme bis Herbst 2022 geplant. | |
Technopark Bucha Techno Garden in Butscha bei Kiew | k.A. | Transport-, Logistik- und Medizincluster auf 3.500 Hektar geplant. Projekt wurde Mitte Mai 2022 vorgestellt. | |
Bau eines Umschlagterminals für Getreide am Donauhafen Ismajil | k.a. | Stadtverwaltung hat im April 2022 eine Fläche von 20 Hektar zugewiesen. |
Mehr Informationen bietet das elektronische Beschaffungssystem ProZorro. Informationen zu aktuellen geberfinanzierten Projekten finden Sie auf der GTAI-Länderseite Ukraine unter "Ausschreibungen" und "Entwicklungsprojekte".
Der ukrainische Privatkonsum leidet unter der gesunkenen Kaufkraft, weniger Konsumenten und einer hohen Inflation. Die Zahl der Beschäftigten ging schon in den vergangenen zwei Jahren coronabedingt zurück. Für 2022 erwartet das wiiw einen weiteren Rückgang auf 13 Millionen. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen hatten bis Mitte Mai 2022 über 6,3 Millionen Menschen die Ukraine verlassen.
Dieser starke Schwund der Erwerbstätigkeit belastet die Kaufkraft. Laut wiiw könnte der Privatkonsum 2022 real um 45 Prozent abstürzen. Ähnlich hoch dürften die Reallohnverluste ausfallen. Der Durchschnittslohn könnte erstmals seit 2018 unter die Schwelle von 10.000 Hrywnja fallen.
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts InfoSapiens erhielten im April 2022 nur 34 Prozent der Beschäftigten ihr volles Gehalt. Nur jeder zehnte Befragte hat Ersparnisse, die länger als ein halbes Jahr reichen.
Darüber hinaus beeinflusst die hohe Inflation von 15,9 Prozent im April 2022 die Konsumstimmung negativ. Für das Gesamtjahr erwartet die Nationalbank eine Teuerung von über 20 Prozent.
Der ukrainische Außenhandel entwickelte sich 2021 noch sehr positiv. Exporte und Importe legten jeweils um mehr als ein Drittel zu.
Mit Beginn des Krieges ist dieser positive Trend passé. Durch die Blockade der ukrainischen Seehäfen können erheblich weniger Exportgüter wie Getreide und Stahl auf die Weltmärkte geliefert werden. Dennoch lag der Ausfuhrwert im 1. Quartal 2022 noch um 3 Prozent über dem Vorjahreswert. Die Importe gingen um 6 Prozent zurück.
Erste Zahlen von Destatis zeigen, wie der deutsche Handel mit der Ukraine seit dem Kriegsausbruch leidet. Im März 2022 verringerten sich die deutschen Exporte in das Land um 46 Prozent auf 266 Millionen Euro. Die Importe aus der Ukraine sanken um 27 Prozent auf 200 Millionen Euro.
Die Abschaffung aller Zölle und Quoten für Lieferungen in die EU setzt positive Impulse für die ukrainischen Exporte. Das europäische Parlament billigte am 19. Mai 2022 die Aussetzung für ein Jahr. Ähnliche Erleichterungen hat auch das Vereinigte Königreich eingeführt.
Von dem Freihandel profitieren besonders die ukrainischen Agrarbetriebe und die Metallurgieindustrie. Die EU ist der wichtigste Handelspartner der Ukraine mit einem Anteil von mehr als 40 Prozent des gesamten Warenaustauschs (2021).
Die USA hatten im Mai 2022 die Schutzzölle für ukrainischen Stahl in Höhe von 25 Prozent abgeschafft.
2020 | 2021 | Veränderung 2021/2020 | |
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Warenimporte (cif) | 54,3 | 72,8 | 34,1 |
Warenexporte (fob) | 49,2 | 68,1 | 38,4 |