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Branchen | Ukraine | Kernkraft

Kernkraft wird größer und kleiner zugleich

Die Atomkraft deckt knapp die Hälfte des ukrainischen Strombedarfs. Dank internationaler Partner soll sie zukünftig ausgebaut werden und zur Energiewende beitragen.

Von Michał Woźniak | Berlin

48 %

ihres Strombedarfs deckt die Ukraine mit Atomkraft

Die Ukraine setzt auch in Zukunft weiter auf Kernenergie. In den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 deckte Atomkraft 48 Prozent des Strombedarfs in der Ukraine, meldet Energoatom. Das Staatsunternehmen betreibt vier Atomkraftwerke mit 15 Reaktoren, wovon allerdings sechs auf das von Russland zeitweise besetzte Werk Enerhodar im Gebiet Saporischschja entfallen. Dort befinden sich 6 der knapp 14 Gigawatt Erzeugerkapazitäten. Eine groß angelegte Wartungskampagne soll dafür sorgen, dass die neun unter ukrainischer Kontrolle stehenden Reaktoren spätestens im November 2023 wieder voll einsatzfähig sind.

Diversifizierung der Brennstoffquellen steht im Mittelpunkt

Eine große, langfristige Herausforderung für die ukrainische Kernkraft ist die Erschließung alternativer Treibstoffquellen für den Betrieb der Reaktoren vom Typ VVER-1000 und VVER-440. Um den bisherigen Lieferanten Russland zu ersetzen, wurde 2020 eine Zusammenarbeit mit der schwedischen Tochter der Westinghouse Electric Company aufgenommen. Diese lieferte Mitte September 2023 die ersten Brennstäbe für den kleineren der beiden Reaktortypen: "Dass uns dies so schnell gelungen ist, ist ein großer Erfolg und eine wesentliche Grundlage für unsere weitere Zusammenarbeit mit Westinghouse, die gerade expandiert. Dies ist ein großartiger Tag für die ukrainische Energiewirtschaft, für unsere Zusammenarbeit mit den USA und Schweden, wo sich die entsprechende Aufbereitungsanlage befindet", freute sich Energieminister Herman Haluschtschenko.

Das für die Brennstäbe notwendige Uran soll zumindest teilweise aus der Ukraine selbst kommen. Das Land verfügt laut der World Nuclear Association (WNA) über Vorkommen von bis zu 185.000 Tonnen Uran. Allerdings sind die Uranelemente vor allem in Granitgestein gebunden, was dessen Abbau verteuert. Experten sprechen zudem vom großen Modernisierungs- und Investitionsbedarf der lokalen Bergbaubranche. Dennoch plant das hochverschuldete und seit 2021 zu Energoatom gehörende Unternehmen VostGOK seine jährlichen Kapazitäten bis 2026 auf 1.265 Tonnen Uran zu steigern.

Vorerst muss das Ausgangsmaterial eine über 20.000 Kilometer lange Lieferkette durchlaufen. Erste Station ist Kanada, wo die Firma Cameco - vertraglich zur Deckung des Gesamtbedarfs von Energoatom zwischen 2024 und 2035 verpflichtet - das Uran in Uranhexafluorid umwandelt. Dessen Reise geht weiter ins Vereinigte Königreich zur Anreicherung bei Urenco, bevor es in Schweden von Westinghouse in Brennstäbe eingesetzt wird. "Eine solche Kernmaterialverarbeitung ist in der Ukraine noch nicht möglich. Aber wir arbeiten daran, die entsprechenden Kapazitäten zu schaffen", skizziert Energoatom-Chef Petro Kotin das Ziel.

Eigenproduktion von Uran als mittelfristiges Ziel

Bei der Vertiefung der Wertschöpfungskette in der Ukraine soll ebenfalls Westinghouse helfen. Ende September 2023 gaben der US-Konzern und Energoatom bekannt, beim verzögerten Projekt des Aufbaus einer Produktionslinie für Brennelemente in der Ukraine nun aufs Tempo zu drücken. Ursprünglich war angedacht, noch in diesem Jahr mit der Fertigung von Endkappen und 2024 mit der Herstellung von Stabhalteplatten für Brennstäbe zu beginnen. "Im Jahr 2026 plant unser Unternehmen, eine eigene Linie mit einem vollständigen Zyklus der Kernbrennstoffproduktion zu schaffen, um sich selbst mit 50 Prozent des notwendigen Kernbrennstoffs zu versorgen", stellte der Energoatom-Chef die aktualisierten Fristen vor.

Westliche Reaktoren ersetzen sowjetische Typen

Westinghouse wird auch beim Ausbau des Kernkraftpotenzials in der Ukraine zum Zuge kommen. Im Herbst 2021 unterzeichneten Energoatom und der US-Atomkonzern gleich zwei Verträge zum Bau von insgesamt sieben Nuklearreaktoren des Typs AP1000, die an bestehenden Standorten die alternden Anlagen aus Sowjetzeiten ersetzen sollen. Kostenpunkt: 40 Milliarden US-Dollar.

Der Ausbruch des Krieges hat die Pläne dabei nicht durchkreuzt, sondern sogar angekurbelt: Im Juni 2022 wurden die Vereinbarungen um weitere zwei Reaktoren des gleichen Typs - Stückpreis 5 Milliarden US-Dollar - ergänzt.

Die ersten beiden der neuen Reaktoren sollen in Chmelnyzkyj zwischen 2030 und 2032 ans Netz gehen. Laut der WNA plant die Ukraine mit Neu- sowie Ersatzreaktoren in Saporischschja, Riwne, Tschyhyryn sowie an weiteren Standorten im Süden und Westen des Landes die Kernkraftkapazitäten bis 2040 um mehr als die Hälfte auf 24 Gigawatt zu steigern.

Dazu beitragen sollen auch "Gebrauchtimporte" aus dem Ausland. Nach dem Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Sofia Anfang Juli 2023 sagte der bulgarische Premierminister Nikolaj Denkow, beide Länder würden über den Verkauf von zwei Reaktoren russischer Bauart verhandeln. Weil der geplante Bau eines Atommeilers auf deren Basis in Bulgarien wegen der EU-Sanktionen nicht mehr möglich erscheint, sucht die dortige Regierung nach Abnehmern. Laut Presseberichten wird der Verkaufspreis für die Anlagen auf bis zu 650 Millionen Euro geschätzt.

Kleinere Anlagen sollen größere Leistung erzeugen

Die Ukraine setzt beim Ausbau der Kernenergie - ähnlich wie Kanada, Polen, Schweden oder Tschechien - auf kleine modulare Reaktoren (Small Modular Reactor; SMR). Bereits im Jahr 2018 ging Energoatom eine Vereinbarung mit Holtec International zum Bau von sechs Einheiten des Typs SMR160 ein. Ein 2019 gegründetes Konsortium soll das Vorhaben bis 2030 realisieren.

Ende September 2023 folgte eine Absichtserklärung mit Westinghouse zur Entwicklung und zum Einsatz eines Reaktors vom Typ AP300 in der Ukraine. Zuerst wird eine gemeinsame Arbeitsgruppe eingerichtet, die in Bereichen wie Vertragsvergabe, Lizenzierung und der lokalen Lieferketten zusammenarbeiten soll.

"Die Ukraine hat gute Aussichten […] die nuklearen Erzeugungskapazitäten sowohl durch den Bau neuer Hochleistungskraftwerke als auch durch die Installation kleiner modularer Reaktoren zu erhöhen",

unterstrich Energieminister Herman Haluschtschenko.

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