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Special | Ukraine | Verteidigungswirtschaft

Ukraine: Vom Kriegsnotstand zum Arsenal Europas

Die ukrainische Verteidigungsindustrie erlebt seit Russlands Angriff eine beispiellose Transformation. Wird das Land zum kostengünstigen, innovativen Lieferanten für ganz Europa?

Von Waldemar Lichter | Warschau

Die ukrainische Verteidigungsindustrie befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Die hohen Rüstungsausgaben des Landes treiben diese Transformation an: Für 2025 plant die Regierung in Kyjiw Rekordinvestitionen von 16 Milliarden Euro für Waffenproduktion und -beschaffung. Das entspricht etwa 38 Prozent des Staatshaushalts und dem 20-Fachen der Vorkriegsausgaben.

Gleichzeitig hat sich der Produktionswert im Jahr 2024 gegenüber dem Vorkriegsjahr 2021 auf über 10 Milliarden Euro verzehnfacht. Laut Prognosen könnte er sich 2025 erneut verdreifachen. Dennoch sind die Kapazitäten nur zu rund 40 Prozent ausgelastet. Gründe dafür sind unzureichender Schutz der Produktionsstätten und fehlende Finanzierung.

Oberstes Ziel: Verteidigung der Ukraine

1.000 Drohnen

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Die Ukraine hat derzeit im Bereich der Luftverteidigung den größten Bedarf, um sich gegen massive russische Angriffe, insbesondere mit ballistischen Raketen, zu verteidigen. Die vorhandenen westlichen Systeme reichen nicht aus, um die Zivilbevölkerung und kritische Infrastruktur flächendeckend zu schützen. Die Ukraine entwickelt daher auch mehrere eigene Systeme, die sich an der Leistungsfähigkeit der US-amerikanischen Patriot orientieren. Mit dem Laserwaffensystem Tryzub steht zudem ein Prototyp zur Verfügung, der Drohnen, Marschflugkörper und sogar ballistische Raketen auf kurze Distanz bekämpfen kann.

Im Bereich der Langstreckenraketen hat die Ukraine die Produktion modifizierter Neptun-Marschflugkörper für Landziele hochgefahren. Diese erreichen inzwischen Reichweiten von bis zu 1.000 Kilometern. Zusätzlich wurde eine neue ballistische Rakete erfolgreich getestet. Parallel dazu wird die Entwicklung und Produktion von Drohnenraketen wie beispielsweise Palianytsia ausgeweitet, eine Langstreckendrohne mit Turbinenstrahltriebwerk und bis zu 700 Kilometern Reichweite.

Lokalisierungsversuche der Pulverproduktion

Weitere Engpässe in der ukrainischen Verteidigungsindustrie betreffen den Mangel an Schießpulver und an den dafür benötigten Rohstoffen. Diese sind essenziell für die Produktion von Artilleriemunition und Raketen. Besonders kritisch ist die Abhängigkeit von Nitrocellulose (Schießbaumwolle). Diese wird hauptsächlich aus China importiert. Aufgrund stockender Lieferungen kommt es hier nicht nur in der Ukraine, sondern in der gesamten europäischen Munitionsproduktion zu Versorgungsproblemen.

Um der Abhängigkeit von Importen zu begegnen, plant die Ukraine den zügigen Bau einer eigenen Schießpulverfabrik. Gleichzeitig experimentiert das Land mit dem Anbau importierter Baumwollsorten, um diese als Rohstoff für die Schießpulverproduktion zu nutzen. Außerdem soll die Kooperation mit europäischen Partnern zur gemeinsamen Produktion von Munition und Raketen – teils auch außerhalb der Ukraine – vorangetrieben werden. Ziel ist es, die Risiken durch russische Angriffe auf Produktionsstätten zu minimieren.

Steigende Nachfrage bietet Chancen für deutsche Firmen

Der ukrainische Bedarf an Militärgütern, Ersatzteilen und Instandsetzungsleistungen wird auf absehbare Zeit außerordentlich hoch bleiben. Deutschen Unternehmen winken direkte Lieferaufträge für Munition, Waffensysteme, Drohnen und elektronische Komponenten, beispielsweise im Rahmen internationaler Beschaffungsprogramme. So erhielt der Radarhersteller Hensoldt im Juli 2025 einen Auftrag für 340 Millionen Euro zur Lieferung von Hochleistungs- und Nahbereichsradarsystemen.

Die Integration der Ukraine in europäische Wertschöpfungsketten sowie die Unterstützung beispielsweise im Rahmen des Programms ReArm Europe eröffnen deutschen Unternehmen langfristige Marktchancen. Gleichzeitig erleichtern sie den Zugang zu öffentlichen Aufträgen und Förderprojekten.

Deutsche Firmen können von Innovationspartnerschaften profitieren

Dazu zählen Kooperationen bei Innovationsprojekten, etwa in den Bereichen Drohnentechnologie, elektronische Kampfführung und Cyberabwehr. Hier hat sich die Ukraine als Innovationsführer etabliert. Deutsche Unternehmen könnten durch Innovationspartnerschaften mit ukrainischen Start-ups, beispielsweise im Bereich KI-gestützter Sensorik oder Drohnentechnologie, von neuem Know-how und praxisnahen Testumgebungen profitieren. So war Diehl das erste ausländische Unternehmen, dass die im Juli 2025 geschaffene Plattform Test in Ukraine für die Erprobung eines Bodenrobotersystems genutzt hat. Das Angebot des staatlich unterstützten Verteidigungsclusters Brave1 bietet internationalen Herstellern die Möglichkeit, Flugdrohnen, Bodenrobotersysteme, Marinedrohnen, elektronische Kriegsführungssysteme oder KI-basierte Lösungen unter kriegsnahen Einsatzbedingungen zu testen. Bedingungen, die laut dem ukrainischen Ministerium für Digitale Transformation "in keinem Labor weltweit simuliert werden können".

Start-ups treiben die Entwicklung an

Seit der vollumfänglichen russischen Invasion 2022 sind in der Ukraine etwa 500 Start-ups in der Verteidigungsindustrie entstanden. Sie liefern direkt an die Front, testen ihre Lösungen unter realen Kampfbedingungen und verbessern sie nahezu in Echtzeit. Zentrale Koordinierungsstelle und Katalysator für die Entwicklung von Verteidigungstechnologien ist das Cluster Brave1. Dieses senkt bürokratische Hürden, hilft Start-ups bei militärischen Zertifizierungsprozessen und mobilisiert privates Kapital. In den ersten zwei Jahren des Bestehens unterstützte das Cluster über 1.500 Unternehmen mit mehr als 540 Förderzusagen im Wert von knapp 50 Millionen Euro.

Worauf spezialisieren sich ukrainische Start-ups im Bereich Dual-Use und Verteidigung?
UnternehmenProdukt
Bavovnahybride KI-gestützte Navigation für unbemannte Fahrzeuge
Griseldageobasierte Plattformen für urbanen Kampf
Himeraverschlüsselte Funkgeräte
Hulessuniverselle Drohnenplattformen für militärische und zivile Missionen
Strategy Force SolutionsKI-gesteuerte Kampfdrohnen, deren Mutterdrohnen-System Ziele bis zu 300 Kilometer hinter feindlichen Linien angreifen kann
SwarmerKI-gestützte Schwarmtechnologien zur kollaborativen Autonomie von unbemannten Fahrzeugen
Quelle: Recherchen von Germany Trade & Invest 2025

Einige deutsche Investoren sind bereits vor Ort

Die Ukraine setzt gezielt auf Joint Ventures mit westlichen Partnern, um Know-how und Technologie ins Land zu holen. Deutsche Unternehmen spielen eine Schlüsselrolle bei der Modernisierung der ukrainischen Rüstungsindustrie. So gründete Rheinmetall 2023 ein Joint Venture für die Reparatur von Schützenpanzern, das später um deren Produktion erweitert wurde. Auch Quantum Systems hat Produktionsstätten für Drohnen aufgebaut. Weitere deutsche Unternehmen sollen folgen.

Kommt zusätzliche Förderung für die Verteidigungsindustrie?

Ein als Defence City bezeichnetes Verzeichnis soll in der Ukraine ansässige Unternehmen aufnehmen, die mindestens 90 Prozent ihres Umsatzes im Rüstungsbereich erzielen. Diese erhalten Sonderförderung, wie Steuererleichterungen, Zollvorteile, vereinfachte Ausfuhrkontrollen und staatliche Unterstützung.

Die Ukraine bietet mit niedrigen Produktionskosten, hochqualifizierten Arbeitskräften und staatlicher Förderung einen attraktiven Standort für den Ausbau von Lieferketten und vielfältige Investitionschancen. "Der Markt für bodengestützte Roboterkomplexe wächst dynamisch und sucht aktiv nach Investitionen für den Aufbau neuer Produktionskapazitäten. Sowohl Nachfrage als auch nötige Mittel sind vorhanden", erklärt Ihor Fedirko, Geschäftsführer des Ukrainian Council of Defence Industry. Weitere Chancen sieht er in den Bereichen Glasfaser, elektromagnetische Waffen, Lasertechnologien sowie Luftverteidigung, einschließlich Drohnen und Anti-Drohnen. Vor allem bei den letztgenannten gibt es auch Exportpotenzial in Richtung EU. Aber auch in angrenzenden Sektoren wie Maschinenbau, Elektronik und Logistik ergeben sich Chancen. Investitionen in neue Entwicklungen und Produkte lassen die Nachfrage nach Werkzeug- und Spezialmaschinen sowie Ausrüstungen steigen.

Laut Fedirko sollten potenzielle Investoren ihre Projekte aber nicht blauäugig angehen. Dem guten Geschäftspotenzial stehen auch einige Risiken entgegen. Die fünf wichtigsten sind ihm nach:

  1. schwaches Investitionsklima
  2. wenig entwickelte Finanzstruktur
  3. fehlender physischer Schutz vor Raketenangriffen
  4. mangelnde Verlässlichkeit der Energieversorgung
  5. zunehmender Fachkräftemangel

Europa öffnet sich für "made in Ukraine"

Andererseits zielen seit diesem Jahr Investitionen der Rüstungsindustrie in der Ukraine nicht nur auf den Binnenbedarf. Die Ukraine wird als einer der prioritären Produktionsstandorte im 150 Milliarden Euro großen EU-Programm ReArm Europe genannt, das Investitionen in den Kapazitätsausbau der Verteidigungsbranche fördert. Bis Ende Juli 2025 wurden laut EU-Kommissionssprecher Thomas Rainier bereits aus neun EU-Mitgliedstaaten Kreditanträge für Vorhaben in der Rüstungsproduktion in der Ukraine gestellt. Diese sollen im Rahmen des SAFE-Programms (Security Action for Europe) umgesetzt werden.

Die Initiative Ramstein Investment for Industries unterstützt sowohl Investitionen ukrainischer Unternehmen als auch europäische Vorhaben in der Ukraine. Ein zentrales Ziel ist, dass rund 70 Prozent der ukrainischen Rüstungsproduktion bis 2026 NATO-kompatible Standards erfüllen. Das steigert die Exportchancen und etabliert ukrainische Hersteller als vollwertige Partner in europäischen Lieferketten. Die Kombination aus Kosteneffizienz, Innovationsgeschwindigkeit und direkter Kampferprobung unter Realbedingungen macht die Ukraine zu einem wichtigen Partner für Europa und quasi zum "Arsenal Europas".

Bedeutende Partnerschaften und Projekte ausländischer Unternehmen in der ukrainischen Verteidigungsindustrie
Internationaler PartnerProjektzielPläne/Schwerpunkte
Atlas Aerospace (Lettland)Forschung und EntwicklungForschungs- und Entwicklungszentrum für Drohnen
BAE Systems (Vereinigtes Königreich)Instandsetzung, WaffenproduktionBüro in Kyjiw, Aufbau lokaler Fertigung
Baykar (Türkei)DrohnenproduktionWerk für 120 Drohnen jährlich, Forschung und Entwicklung, Technologietransfer
Česká zbrojovka (Tschechien)Produktion des BREN 2-SturmgewehrsVereinbarung mit Ukroboronprom über die Lokalisierung der Produktion in der Ukraine
Internationales Konsortium (Dänemark, Schweden, Norwegen, Island, Kanada)Produktion von Artillerie, Drohnen, Raketen, PanzerabwehrFinanzierung nach dänischem Modell, Technologietransfer, keine eigene Produktion angekündigt
Northrop Grumman (USA)Produktion von Munition mittleren Kalibers nach NATO-StandardJoint Venture mit Ukroboronprom
Rheinmetall (Deutschland)Service- und Wartungsdienstleistungen, Montage, Produktion und Entwicklung von Militärfahrzeugen, MunitionsfabrikJoint Venture Rheinmetall Ukrainian Defense Industry LLC (Rheinmetall: 51 Prozent); Bau von vier Werken, lokale Produktion, Export
Textron (USA)Produktion von Hubschraubern der Marke BellVorbereitungen für technische Konsultationen, Bewertung des Investitionsrisikos
Thales (Frankreich)Luftverteidigung, Radarsysteme, elektronische KriegsführungJoint Venture, Anti-Drohnen-Raketen
Quelle: Angaben der ukrainischen Regierung 2025; Pressemeldungen 2025; Recherchen von Germany Trade & Invest 2025

Privatunternehmen bringen Dynamik in die Branche

Die wachsende Bedeutung privater Unternehmen sorgt für Bewegung. Früher hatte der staatliche Großkonzern Ukroboronprom (heute Ukrainian Defense Industry) mit über 100 Unternehmen und rund 67.000 Beschäftigten eine monopolartige Stellung inne. Zur Gruppe gehören heute unter anderem Werke wie Antonow (Flugzeuge), Malyschew (Panzer), das Konstruktionsbüro Luch (Lenkwaffen), Motor Sitsch (Triebwerke), Spetstechnoexport (Rüstungsexport), Artem (Munition, Raketen), mehrere Hersteller gepanzerter Fahrzeuge sowie Werften.

Dänisches Modell zur Finanzierung von Rüstungsgütern macht Schule

Das erstmals von der dänischen Regierung Anfang 2024 implementierte Finanzierungsmodell sieht direkte Investitionen in die ukrainische Rüstungsproduktion vor, anstatt fertige Waffen zu liefern oder ukrainische Soldaten an westlichen Systemen auszubilden. Die Ukraine erstellt eine Prioritätenliste benötigter Waffen und Experten prüfen ukrainische Hersteller auf ihre Möglichkeiten. Die Produktion wird dann direkt von Partnerländern finanziert und an die ukrainischen Streitkräfte ausgeliefert. Die Mittel, die 2024 und 2025 über 1,8 Milliarden Euro betragen sollen, stammten bisher aus Dänemark, Island, Kanada, Norwegen, Schweden sowie aus Zinserträgen eingefrorenen russischen Vermögens.

Der Markt öffnet sich zunehmend für private Akteure. Zwar zieht Ukrainian Defense Industry weiterhin wertmäßig bis zu zwei Drittel der Aufträge an sich, doch liefern die rund 700 privaten Hersteller mit über 200.000 Beschäftigten mittlerweile etwa 60 Prozent der Stückzahlen. Besonders stark vertreten sind sie in Bereichen wie Drohnentechnologie, elektronische Kampfführung, Robotik und leichte gepanzerte Fahrzeuge. Zu den führenden Akteuren zählen unter anderem Ukrainian Armor, Aerorozvidka, Deviro, Kvertus, Matrix UAV, Roboneers, Infozahyst, Skyeton, UA Dynamics und Leleka Aero. Etwa 60 private Hersteller haben sich zudem zur Union Tech Force zusammengeschlossen, um Innovationen voranzutreiben. 

Wichtige Kontakte im Bereich Verteidigungsindustrie in der Ukraine

Bezeichnung

Anmerkungen

Ministerium für Wirtschaft, Energie und Agrarpolitik

Regierungsressort verantwortlich unter anderem für Sicherheits- und Verteidigungswirtschaft

Defense Procurement Agency

Vergabestelle des ukrainischen Verteidigungsministeriums

Brave1Staatliche Plattform zur Förderung von Innovationen im Verteidigungsbereich sowie Vernetzung von Industrie, Militär und Forschung
Ukroboronprom

Staatliche Holding von Unternehmen der Verteidigungsindustrie

Ukrainian Defense and Security Industry (UADSI)Branchenverband der Verteidigungsindustrie
National Association of Ukrainian Defense Industries (NAUDI)Branchenverband der Verteidigungsindustrie
Ukrainian Council of Defence IndustryDachverband der privaten Verteidigungsindustrie 
AHK Ukraine (Deutsch-Ukrainische Industrie- und Handelskammer)Anlaufstelle für deutsche Unternehmen
Ost-Ausschuss der Deutschen WirtschaftAnlaufstelle für deutsche Unternehmen
Ministerium für Wirtschaft der UkraineRegierungsressort verantwortlich unter anderem für Investitionsförderung

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