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Special | Deutsche Wettbewerbsposition | Chemische Industrie

"Wir stehen vor einem enormen Wandel"

Die deutsche Chemiebranche steht im internationalen Wettbewerb gut da. Welche Märkte gewinnen an Bedeutung? Mit welchen Herausforderungen sieht sich die Branche konfrontiert?

Von Michael Monnerjahn, Christina Otte, Beate Voell | Bonn

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) vertritt die wirtschaftspolitischen Interessen der Chemie- und Pharmaunternehmen in Deutschland. Dr. Matthias Blum (oben) leitet den Bereich Außenwirtschaft und Industriepolitik. Dr. Henrik Meincke (unten) ist Chefvolkswirt des VCI. Die beiden Experten bewerten im Interview die Position der deutschen Chemiebranche im globalen Wettbewerb.

Matthias Blum, VCI Matthias Blum, VCI | © VCI Portraitbild Henrik Meincke, VCI Portraitbild Henrik Meincke, VCI | © VCI

Was zeichnet einen erfolgreichen Chemiestandort aus?

Blum: Der Zugang zu Energie- und anderen Rohstoffen zu wettbewerbsfähigen Preisen ist ein wichtiger Faktor, ebenso gute Innovationsbedingungen und die Verfügbarkeit von qualifizierten Fachkräften. Ein gutes Innovationsnetzwerk ist eine spezielle Stärke Deutschlands. Universitäten und Forschungsinstitute arbeiten eng mit der Wirtschaft zusammen. Außerdem können dank eines starken Industrienetzwerkes vor Ort gemeinsam mit Zulieferern und industriellen Kunden rasch große Mengen erzeugt werden, wodurch sich Skaleneffekte ergeben. Die Entwicklung, Produktion und Vermarktung von Coronaimpfstoffen ist hierfür ein aktuelles Beispiel.

Das regulatorische Umfeld ist ebenfalls wichtig. Es hat maßgeblichen Einfluss darauf, welche Produkte angeboten werden können und wie rentabel sie sind. Damit verbunden sind auch die industriepolitischen Rahmenbedingungen. Inzwischen wird es zunehmend wichtiger, welche Fördermöglichkeiten in einem Land vorhanden sind.

Meincke: Auch die Infrastruktur ist wichtig. Die Chemieindustrie ist auf eine gute Verkehrsinfrastruktur angewiesen – Straße, Schiff, Bahn und Pipelines. Der Investitionsstau der vergangenen Jahrzehnte hat allerdings zu einer deutlichen Verschlechterung der Infrastruktur geführt. Das zeigt sich etwa im Schienenverkehr. Entscheidend für einen erfolgreichen Chemiestandort ist zudem der Zugang zu einem großen Markt, im Fall von Deutschland zum Binnenmarkt der Europäischen Union. 

Auch der Zugang zu den dynamisch wachsenden Exportmärkten Asiens sowie nach Nordamerika ist für Deutschland ein wichtiger Standortfaktor. Ohne diesen Zugang wäre die deutsche Chemie nicht Exportweltmeister.

In den vergangenen Jahren hat Deutschland im Pharmabereich Zuwächse erzielt. Was ist der Grund für diesen Erfolg?

Meincke: Herausforderungen wie die alternde Bevölkerung, neue oder scheinbar unheilbare Krankheiten bieten dem Pharmasektor Chancen. Mit innovativen, hochwertigen Produkten ist es der Gesundheitsindustrie gelungen, die Gesundheit der Menschen zu verbessern und ein Qualitätswachstum zu erreichen. Das ist in anderen Bereichen der Chemie zwar schwieriger, doch bieten sich dort ebenfalls gute Chancen.

Blum: Die deutsche Pharmaindustrie ist in der Forschung und bei der Anmeldung von Patenten stark. Wir haben ein sehr gutes Ökosystem, zu denen Universitäten und Zulieferer gehören. Bisher ist des Weiteren der Schutz der Eigentumsrechte hoch. So können für innovative Medikamente hohe Preise erzielt werden. Aber das wird derzeit infrage gestellt. Für deutsche Unternehmen ist es nicht zielführend, in allen Ländern der Welt zu produzieren. Die Unternehmen brauchen bei der Produktion eine gewisse Skalierung und höchste Qualitätsstandards.

Können andere Bereiche der chemischen Industrie davon lernen?

Meincke: Der nachhaltige Umbau der Wirtschaft erfordert innovative Lösungen und nachhaltige Materialien aus der Chemie. Für ökologische Produkte ist Deutschland ein Leitmarkt, etwa bei Windkraftanlagen oder Elektrofahrzeugen. Das bietet Chancen. Ähnlich wie im Pharmasektor findet in vielen Bereichen der Chemie ein qualitatives Wachstum statt. Vor allem bei Grundstoffen gibt es jedoch noch zahlreiche Kunden, welche nur auf den Preis achten.

Genauso führt nichts an der Kreislaufwirtschaft vorbei. Fossile Energieträger werden auf lange Sicht nicht mehr zur Verfügung stehen. Im Verpackungsbereich kommt bereits viel recyceltes Material zum Einsatz. Hier bietet die Chemieindustrie mit innovativen Verfahren zum physikalischen und chemischen Recycling attraktive Lösungen an – ein Markt mit hohem Wachstumspotenzial.

Welche Abnehmermärkte der deutschen Chemiebranche gewinnen weltweit an Bedeutung?

Blum: Vor zwei Jahrzehnten waren die BRICS-Staaten – die aufstrebenden Schwellenländer wie China und Indien – als „Märkte der Zukunft“ das vorherrschende Narrativ. Deutschland hat in diesen Ländern, aber auch in Amerika und Europa, viel investiert. Nun stecken wir in einer Phase der Neuorientierung. Geopolitik hat an Bedeutung gewonnen. Länder wie China werden als Exportmarkt an Bedeutung verlieren. Zudem wird uns China als Wettbewerber zu schaffen machen.

In Zukunft werden die USA und Europa wieder eine stärkere Rolle spielen – sowohl als Exportmarkt, aber vor allem auch als Investitionsstandort für deutsche Unternehmen. Die USA haben zwar ebenfalls eine starke Wettbewerbsfähigkeit, im Nachhaltigkeitsbereich sind wir aber noch einen halben Schritt voraus.

Wir empfehlen den Unternehmen, sich zu diversifizieren. Den einen Markt gibt es nicht.

Neben Europa, Asien und Nordamerika sollten sie die Länder in Südamerika und natürlich auch in Afrika in den Blick nehmen. Wenngleich das teilweise noch ein langer Weg ist – insbesondere in Afrika.

Welche Rolle spielen Zukunftsthemen wie der Green Deal?

Blum: Er wird ein bestimmendes Thema für die Zukunftsfähigkeit des Standorts Europa sein. Es wird nicht den einen Green Deal geben, Länder und Regionen werden ihre spezifischen "Green Deals" entwickeln. Das wird den Handel zwischen den Regionen erschweren. Die großen Unternehmen werden sich mit einer Produktion vor Ort anpassen.

Welche Auswirkungen wird der Klimawandel haben – vornehmlich die wachsende Bedeutung von Wasserstoff?

Blum: Wasserstoff ist ein wichtiger Treiber der Chemietransformation. Viele Unternehmen beteiligen sich an dem Wandel. Sie treiben den Wechsel voran, da der Kampf gegen den Klimawandel als Ziel unabdingbar ist. Für die treibhausgasneutrale Produktion von Wasserstoff wird jedoch enorm viel erneuerbare Energie benötigt. Daher wird nur ein Teil zukünftig aus Europa kommen können. Zusätzlich werden wir Wasserstoff aus Australien, Südamerika und Nordafrika beziehen.

Wir müssen dabei aufpassen, dass nicht ganze Teile der Wertschöpfungskette, etwa die Produktion von Ammoniak, komplett abwandern.

Meincke: Der Kampf gegen den Klimawandel und die nachhaltige Transformation der Wirtschaft bieten der Chemieindustrie neben den Herausforderungen der Transformation vor allem Marktchancen. Eine nachhaltige Stromerzeugung erfordert beispielsweise viel hochwertige Chemie. Denn in Windkraft- oder Photovoltaikanlagen steckt mehr Chemie als in einem Atomkraftwerk oder einem Kohlekraftwerk. Mit den Materialien und Lösungen für eine CO2-neutrale Wirtschaft kann die Branche nachhaltig wachsen. In vielen Bereichen wird die Nachfrage nach qualitativ hochwertigen und nachhaltig produzierten Materialien steigen.

Wir stehen vor einem enormen Wandel – nicht nur in unserer Branche. Derzeit benötigt die Industrie noch viele fossile Rohstoffe. In Zukunft werden diese durch Wasserstoff, Biomasse und Abfall ersetzt. Und die chemische Industrie wird insgesamt komplexer. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, wird mehr Wertschöpfung als bisher wieder in Deutschland stattfinden. Daher sehen wir durch den Wandel auch ein großes Wachstumspotential.

Weitere Informationen

Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) vertritt die Interessen von rund 1.900 Unternehmen aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie und chemienaher Wirtschaftszweige gegenüber Politik, Behörden, anderen Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und den Medien. 2021 setzten die Mitgliedsunternehmen des VCI rund 220 Milliarden Euro um und beschäftigten über 530.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.


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