Wirtschaftsausblick | Ukraine
Wirtschaft wächst trotz Krieg, Zöllen und Fachkräftemangel
Unsichere Energieversorgung, fehlende Arbeitskräfte und neue Zölle machen der Wirtschaft das Leben schwer. Aber der Wiederaufbau hält die Konjunktur auf Kurs.
23.06.2025
Von Waldemar Lichter | Warschau
Topthema: Wegfall der EU-Handelserleichterungen sorgt für Unsicherheit
Die Energieversorgung und der Mangel an Arbeitskräften bleiben zentrale Herausforderungen für die Wirtschaft. Seit Juni 2025 verschärft sich die Lage insbesondere im Agrar- und Nahrungsmittelsektor durch ein weiteres Problem: Am 6. Juni 2025 sind die EU-Handelsvergünstigungen für die Ukraine ausgelaufen. Die bisherige Zollbefreiung für ukrainische Waren wurde beendet und durch Übergangsregelungen ersetzt, die bis zum Abschluss eines neuen Handelsabkommens gelten. Seither unterliegen zahlreiche Agrarprodukte wieder Zöllen und Importquoten, darunter Zucker, Getreide, Geflügel und Eier.
Die ukrainische Regierung warnt vor erheblichen wirtschaftlichen Einbußen. Nach Schätzungen ukrainischer Agrarverbände könnten dem Land durch die Wiedereinführung der Handelsbeschränkungen Deviseneinnahmen von bis zu 3,3 Milliarden Euro jährlich entgehen.
Arbeitskräftemangel verschärft sich
Die Lage auf dem ukrainischen Arbeitsmarkt bleibt äußerst angespannt. Seit Beginn des Krieges ist die Zahl der Arbeitskräfte von 17,4 Millionen im Jahr 2021 auf aktuell rund 14 Millionen gesunken. Ein dramatischer Rückgang, der vor allem auf Fluchtbewegungen und Mobilmachung zurückzuführen ist. Der Krieg hat schon jetzt eine tiefe demografische Lücke hinterlassen: Hunderttausende Männer sind im Krieg gefallen oder wurden verwundet, etwa eine Million Menschen leisten derzeit Militärdienst und stehen dem zivilen Arbeitsmarkt nur eingeschränkt zur Verfügung.
Nach Schätzung der Beratungsfirma KPMG sind derzeit rund 100.000 Arbeitsstellen unbesetzt, vor allem in Schlüsselbranchen wie Logistik, Transport, IT, Bau und Landwirtschaft. Nicolai Kiskalt, Leiter des KPMG Ukraine Gateway, warnt: Bis 2033 könnte der Bedarf an zusätzlichen Fachkräften auf bis zu 4,5 Millionen steigen.
Wirtschaftsentwicklung: Erst 2026 zieht das Wachstum wieder an
Trotz massiver Zerstörungen und anhaltender Herausforderungen erweist sich die ukrainische Wirtschaft als bemerkenswert widerstandsfähig. Seit dem Frühjahr 2023 zeigt die Wachstumskurve stetig nach oben. Nach dem dramatischen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um rund 30 Prozent im ersten Kriegsjahr 2022 wuchs die Wirtschaftsleistung 2023 real um 5,5 Prozent und 2024 um weitere 2,9 Prozent.
Dennoch bleibt der Weg zur vollständigen wirtschaftlichen Erholung lang: Selbst unter optimistischen Annahmen dürfte das reale BIP im Jahr 2025 noch etwa 20 Prozent unter dem Vorkriegsniveau von 2021 liegen. Eine Rückkehr auf das Niveau vor Kriegsbeginn wird im besten Fall für das Jahr 2033 erwartet.
Konjunktur schwächelt
Im Jahr 2024 begann sich das wirtschaftliche Wachstum der Ukraine abzuschwächen. Gründe dafür waren verstärkte russische Angriffe auf kritische Energieinfrastruktur, der Arbeitskräftemangel sowie rückläufige Exporte.
Nach einer Zunahme von 6,8 Prozent im 1. Quartal 2024, folgte im 2.Quartal ein Plus von 4 Prozent und im 3. Quartal von nur noch 2,2 Prozent jeweils gegenüber dem Vorjahresquartal. Im 4. Quartal 2024 wurde erstmals seit Beginn der Erholung wieder ein leichter Rückgang verzeichnet.
Investitionen könnten für neue Impulse sorgen
Diese Tendenz setzt sich auch 2025 fort. Im 1. Quartal wuchs die Wirtschaft um schwache 1,1 Prozent. Für das Gesamtjahr 2025 erwartet die Europäische Kommission eine reale Zunahme der Wirtschaftsleistung von 2 Prozent, getragen vor allem von der Zunahme der Investitionen und des privaten Verbrauchs. Zu dem Anstieg der Investitionen tragen die hohen Ausgaben für den Ausbau und Entwicklung der Verteidigungsindustrie bei, aber auch die laufenden Arbeiten an der Wiederherstellung des Landes.
Das wird auch 2026 für Wachstumsimpulse sorgen. Investitionen in Wiederaufbau und Modernisierung könnten an Fahrt gewinnen, vorausgesetzt die Sicherheitslage erlaubt es und die Kampfhandlungen lassen an Intensität nach. Zudem zeichnet sich bereits jetzt eine zunehmende Investitionstätigkeit sowohl privater als auch öffentlicher Akteure ab. Ein erheblicher Teil dieser Mittel fließt in den Energiesektor und verwandte Infrastrukturprojekte.
Darüber hinaus werden auch in anderen Bereichen Investitionen getätigt, etwa in der Agrar- und Nahrungsmittelwirtschaft, im Einzelhandel sowie im Tourismussektor.
Deutsche Perspektive: Wiederaufbau wird große Chancen bieten
Der russische Angriffskrieg hat den bilateralen Handel 2022 einbrechen lassen. Seitdem geht es jedoch wieder aufwärts. Die deutschen Warenexporte in die Ukraine stiegen 2024 um 17 Prozent auf den Rekordwert von 8,2 Milliarden Euro. Noch kräftiger legten die deutschen Importe aus der Ukraine zu. Sie kletterten um 20,7 Prozent auf die Rekordhöhe von rund 3,5 Milliarden Euro.
Die Kosten für den Wiederaufbau des Landes werden auf umgerechnet 458 Milliarden Euro geschätzt. Von den Investitionen in den Wiederaufbau können auch deutsche Unternehmen profitieren.
Chancen in vielen Bereichen für deutsche Unternehmen
Prioritärer Bereich ist der Energiesektor. Hier bieten sich gute Chancen für deutsche Anbieter von Technologie, Ausrüstungen und Anlagen. Besondere Chancen bietet der Aufbau dezentraler Energieversorgungssysteme. Große ukrainische Konzerne investieren bereits massiv in Energieautonomie. Aber auch Unternehmen aus der Industrie oder dem Handelssektor setzen auf dezentrale Energieversorgung.
Ähnliches gilt für den Baustoffsektor. Die Bauwirtschaft und Herstellung von Baustoffen bietet enormes Potenzial aufgrund des Wiederaufbaubedarfs. Zahlreiche ausländische Unternehmen, darunter auch deutsche Firmen wie Knauf oder Fixit investieren bereits in der Ukraine und bereiten sich so auf den künftigen Nachfrageboom vor.
Zudem könnten sich künftig weitere Geschäftschancen im Agrarsektor und der Verarbeitung von Agrarrohstoffen ergeben, aber auch im Abfall- und Recyclingsektor, bei der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung sowie im Gesundheitswesen.