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Brasiliens Chemieindustrie: Zwischen Krise und grünem Aufbruch
Die Chemieindustrie Brasiliens steht unter Druck. Zölle sollen die lokale Produktion schützen. Doch es entstehen auch neue Projekte. Wo liegen die Chancen für eine Erholung?
29.10.2025
Von Gloria Rose | São Paulo
"Schlechter geht es nicht", äußerten sich einige Unternehmensvertreter zur Entwicklung der Chemieindustrie im Jahr 2024. Doch der Abwärtstrend der Branche setzt sich im Jahr 2025 weiter fort. Laut dem Branchenverband Abiquim nahm die Produktion von Industriechemikalien im 1. Halbjahr 2025 um 3,8 Prozent ab.
Damit lasteten die Werke ihre Kapazitäten im Schnitt nur noch zu 62 Prozent aus – ein Negativrekord der vergangenen drei Jahrzehnte. Besonders stark betroffen sind petrochemische Zwischenprodukte, darunter solche für Düngemittel (Auslastung: 43 Prozent), Kunststoffe (45 Prozent), synthetische Fasern (51 Prozent) und Weichmacher (53 Prozent).
Weltweiter Preisverfall führt zu Umstrukturierungen
Mit den aktuellen Niedrigpreisen am Weltmarkt kann Brasiliens Chemieindustrie nicht mithalten, allen voran wegen der höheren Kosten für Erdgas. Zwei Werke stellten 2024 den Betrieb ein: Fortal Química der Formitex-Gruppe in Candeias (Bundesstaat Bahia) und Rhodia der belgischen Solvay-Gruppe in Paulínia (São Paulo).
Brasiliens zweitgrößter Petrochemiekonzern Unigel steckt seit zwei Jahren in finanziellen Schwierigkeiten und verschob die geplante Wiederaufnahme der Produktion von Akrylverbindungen auf 2028. Der norwegische Düngerspezialist Yara kündigte an, die Produktion von Schwefelsäure und Phosphatdünger in Cubatão (Sâo Paulo) einzustellen, um sich auf Stickstoffdünger zu konzentrieren.
Brasilien schützt seine Polymerindustrie vor Billigimporten
Einen kurzfristigen Ausweg bieten Schutzzölle. So greifen seit Oktober 2024 Zölle für 30 Zwischenprodukte. Im 1. Halbjahr 2025 lag der Importanteil bei Industriechemikalien daher nur noch bei 43 Prozent, gegenüber 53 Prozent im Vorjahreszeitraum. Abiquim setzt sich für die Verlängerung der auf ein Jahr begrenzten Maßnahme ein.
Zusätzlich zu den Schutzzöllen nutzt Brasilien Antidumpingzölle auf den Import von Polymeren. Die Hersteller Indorama und Alpek beantragten solche im 1. Halbjahr auf PET-Importe aus Malaysia und Vietnam. Ende August 2025 beschloss die staatliche Außenhandelskammer CAMEX hohe Antidumpingzölle auf Polyethylen aus den USA und Kanada. Die Entscheidung fiel wenige Wochen nach den drastischen US-Zollerhöhungen auf brasilianische Produkte. Diese treffen zwar auch die Chemieindustrie, allerdings fallen ihre wichtigsten Produkte unter die rund 700 Ausnahmen, die die US-Regierung festgelegt hat.
Immer seltener Maschinen erhalten Zollvergünstigung Ex-Tarifário
Auch beim Import von Maschinen und Anlagen verschärfen sich die Einfuhrbedingungen. Über das Regime "Ex-Tarifário" gewährt die brasilianische Außenhandelskammer (CAMEX) Tarifminderungen für Kapitalgüter und IT-Produkte, die in Brasilien nicht oder nicht konkurrenzfähig hergestellt werden können. Deutsche Maschinenbauer berichten, dass diese Vergünstigungen nur noch selten gewährt werden. Außerdem muss der Antrag mittlerweile durch den Investor oder per Vollmacht im Auftrag des Investors gestellt werden.
Zukunftsweisende Grundlagen für grüne Chemie
Um die Wettbewerbsfähigkeit der Chemieindustrie und die Investitionen vor Ort zu stärken, gewährt Brasilien bis 2027 Anreize über das Steuerregime REIQ. Braskem, Innova und andere Petrochemiefirmen nutzen die Vergünstigungen und investieren 2025 rund 140 Millionen US-Dollar (US$).
Nun debattiert der Nationalkongress mit dem "Programa Especial de Sustentabilidade de Indústria Química" (Presiq) ein neues Programm, in dem Nachhaltigkeit (Sustentabilidade) ein zentraler Aspekt ist. Es soll dazu beitragen, die Kapazitätsauslastung im Sektor zu erhöhen. Weitere Ziele sind 1,7 Millionen neue Jobs und über 20 Milliarden US$ an Investitionen.
Wenn Presiq verabschiedet wird, hat der Petrochemieriese Braskem angekündigt, am Standort Duque de Caxias (Rio de Janeiro) rund 780 Millionen US$ zu investieren. Im Rahmen seines Projekts "Transforma Rio" will das Unternehmen bis 2028 zusätzliche Kapazitäten für 230.000 Tonnen Polyethylen pro Jahr schaffen.
Schon heute produziert Brasiliens Chemieindustrie "grüner" als die meisten anderen Standorte weltweit. Das Land verfügt über ein enormes Potenzial zur kostengünstigen Erzeugung erneuerbarer Energie und für Wasserstoff. Dieses will Brasilien nutzen, um vom globalen Trend zur Dekarbonisierung zu profitieren und mehr Investitionen anzulocken. Am aussichtsreichsten sind Biokraftstoffe, Biomethan und die Düngerproduktion.
Biokraftstoffe und Biomethan im Zentrum der grünen Industriepolitik
Im August 2025 hat Brasilien den Beimischungsanteil von Ethanol im Benzingemisch von 27 auf 30 Prozent angehoben. Bei Diesel müssen nun 15 Prozent Biodiesel statt zuvor 14 Prozent beigemischt werden. Diese Maßnahmen sind im Gesetz zur Förderung nachhaltiger Kraftstoffe festgelegt, das im Oktober 2024 verabschiedet wurde.
Am 5. September 2025 erließ die Regierung eine neue Richtlinie zur Dekarbonisierung des Gasmarktes und für Investitionsanreize für Biomethan. Das Rahmengesetz sieht bereits für 2026 die Einführung von Herkunftszertifikaten (Certificado de Garantia de Origem do Biometano, CGOB) und Beimischungsquoten vor.
Weitere Gesetze schaffen Anreize für Investitionen in Bioenergie. Dazu zählen:
- das Förderprogramm Mover für die Kfz-Industrie,
- der Rechtsrahmen für kohlenstoffarmen Wasserstoff,
- die Einführung des verpflichtenden Zertifikatehandels und
- das Förderprogramm zur Beschleunigung der Energiewende PATEN
Gestützt wird die Entwicklung durch den bereits seit 2019 geltenden verpflichtenden Zertifikatehandel im Kraftstoffsektor RenovaBio. Doch ist Vorsicht geboten. Angesichts von Betrugsfällen und kriminellen Geschäften gewinnen Lösungen zur lückenlosen Rückverfolgung von Lieferketten an Bedeutung.
Förderprogramme der Bundesstaaten
Laut der brasilianischen Verfassung sind die Bundesstaaten für die Gasversorgung zuständig. Auch die Versorgung mit Biomethan liegt in ihrer Verantwortung. Daher erfordert der Ausbau des Biomethanmarktes nicht nur nationale Maßnahmen, sondern auch regionale.
Bislang gewährt jedoch nur ein Teil der 26 Bundesstaaten Investitionsanreize. Dazu gehören Alagoas, Bahia, Mato Grosso, Mato Grosso do Sul, Minas Gerais, Paraná, Pernambuco, Rio Grande do Sul, Santa Catarina sowie Rio de Janeiro und São Paulo. Die beiden letztgenannten sind besonders aktiv:
- So verbesserte Rio de Janeiro mit den Richtlinien Decreto Nr. 48.972/2024 und Nr. 49.715/2025 die Voraussetzungen für die Biomethanproduktion.
- Der Bundesstaat São Paulo bietet mit der App Conecta Biometano SP eine Plattform zur Vernetzung von Unternehmen an.
- Außerdem legte die Investitionsagentur InvestSP Förderfonds wie FIDC für Biokraftstoffe und Linha Economia Verde auf.
Düngerproduktion soll ab 2026 an Fahrt aufnehmen
Im 2. Halbjahr 2025 will Petrobras neue Verträge für die Stickstoffdüngerkomplexe in Camaçari (Bahia) und Laranjeiras (Sergipe) vergeben. Beide Anlagen sind seit 2023 außer Betrieb. Außerdem nahm der halbstaatliche Ölkonzern im Juni 2025 den Betrieb der Anlage ANSA in Araucária (Paraná) auf. Ab September 2025 soll die Produktion von Harnstoff anlaufen.
Die Erholung der Harnstoffpreise am Weltmarkt stützt die Vorhaben. Zentrale Motivation ist jedoch die Minderung der hohen Importabhängigkeit, die bei Stickstoffdünger derzeit bei etwa 85 Prozent liegt. Bis 2028 soll der Importanteil auf 65 Prozent sinken. Mit diesem Ziel plant Petrobras auch die Fertigstellung der Stickstoffdüngeranlage UFN3 in Três Lagoas (Mato Grosso). Für alle Düngerprojekte sieht der Ölkonzern in seinem Investitionsplan von 2025 bis 2029 eine Summe von insgesamt 900 Millionen US$ vor.
| Akteur / Projekt | Investitionssumme | Projektstand/Anmerkungen |
|---|---|---|
| Acelen / Produktion von grünem Diesel (Hydrotreated Vegetable Oil, HVO) und nachhaltigem Luftfahrttreibstoff (Sustainable Aviation Fuel, SAF) in São Francisco do Conde (Bahia) für den Export | 2.200 | Inbetriebnahme im 1. Halbjahr 2026; Kapazität: 20.000 Barrel pro Tag (Barrel per Day, bpd) hydrobehandelter Ester und Fettsäuren (Hydrotreated Esters and Fatty Acids, HEFA) |
| Petrobras / Produktion von HVO und Vorprodukten für SAF in den Raffinerien in Cubatão (São Paulo) und in Itaboraí (Rio de Janeiro) | k.A. | Cubatão: Inbetriebnahme geplant für 2028 mit einer Kapazität von 15.000 bpd HEFA Itaboraí: Inbetriebnahme ab 2031 mit einer Kapazität von 19.000 bpd HEFA |
| GoVerde / Produktion von E-Methanol, grünem Ammoniak und Sauerstoff in Candeias (Bahia) | 1.600 | davon 950 Mio. US$ in die Produktionsanlage und 550 Mio. US$ in einen Solarpark |
| Petrobras, Ultra und Braskem / Umbau und Modernisierung der Erdölraffinerie Riograndense in eine Anlage zur Raffinerie von Biokraftstoffen (Rio Grande do Sul) | 750 | Ankündigung im Februar 2025; Inbetriebnahme geplant für 2027 mit einer Kapazität von 15.000 bpd HEFA |
| Satarem America (USA) / SAF-Anlage in Maringá (Paraná) | 425 | Ankündigung im Juni 2025; Baubeginn geplant im 2. Halbjahr 2026; Inbetriebnahme geplant im Dezember 2028 |
| European Energy (Dänemark) / Produktion von E-Methanol in Suape (Pernambuco) | 400 | Umweltlizenz im September 2025 erteilt; Baubeginn voraussichtlich bis Anfang 2026; Inbetriebnahme geplant für 2028 |
| GoVerde und Metanol Suape / Produktion von E-Methanol in Suape (Pernambuco) | 360 | Ankündigung im Juni 2025; Inbetriebnahme geplant für 2028 mit einer Kapazität von 300 bdp (barrel per day) E-Methanol; bis 2032 Steigerung auf 900 bpd |
| Cibra / Modernisierung von 13 Düngerfabriken | 273 | Effizienzsteigerungen mit dem Ziel, die Produktion von derzeit 2,2 Mio. auf 5,0 Mio. t pro Jahr zu erweitern |
| CBPM und Galvani / Phosphatförderung und -verarbeitung in Irecê (Bahia) | 255 | ab 2026 Gewinnung von 350.000 t Phosphatkonzentrat pro Jahr für die Düngerproduktion |
| Agrojem (50%), ACP Bioenergia (35%) und Czarnikow (Vereinigtes Königreich; 15%) / Anlage zur Produktion von Ethanol aus Mais in Miranorte (Tocantins) | 200 | Inbetriebnahme 2027; geplante Produktionskapazität von bis zu 220 Mio. l Ethanol pro Jahr und Koprodukten |