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LibanonKonjunktur / Außenhandel, Struktur / Investitionsklima / Kaufkraft, Konsumverhalten
Wirtschaftsumfeld
Wirtschaftsausblick | Libanon
Die libanesische Wirtschaft ist im freien Fall. Corona und die Explosion im Hafen von Beirut haben die Krise akut verschärft. Das Machtvakuum im Land vergrößert die Probleme.
27.10.2020
Von Christian Glosauer | Bonn
Die chronische Wirtschafts- und Gesellschaftskrise im Libanon hat eine neue Dimension erreicht. Eingeleitet von Massenprotesten gegen die Regierung im Oktober 2019, die dann im Rücktritt des Premierministers Saad Hariri gipfelten, kam im Verlauf von 2020 ein Schlag nach dem anderen für das kleine Land im östlichen Mittelmeer mit gerade einmal der halben Größe Hessens. Inzwischen ist der Nachfolger Hariris, Hassan Diab, seinerseits mitsamt Kabinett zurückgetreten. Das komplizierte Gefüge konfessioneller Machtzentren und Parteien scheint sich Ende Oktober 2020 abermals auf Hariri als Premierminister geeinigt zu haben. Zur Zeit hat das Land keine handlungsfähige Regierung.
Lebten zu Beginn der Proteste im Oktober 2019 noch 30 Prozent der Libanesen unter der Armutsgrenze, sind es inzwischen 55 Prozent. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert für 2020 einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 25 Prozent. Vorhersagen für 2021 und danach werden wegen der großen Unsicherheit vom IWF nicht gemacht.
Im März 2020 hatte der Staat den Schuldendienst auf Fremdwährungsanleihen (Eurobonds) eingestellt und damit den Offenbarungseid geleistet. Dies ging einher mit dem Verfall der Landeswährung. Die feste Bindung des Libanesischen Pfunds an den US-Dollar (1.507,5 L£ = 1 US$), die bis vor einem Jahr auch durchgehalten wurde, ist nur noch Makulatur. Am Schwarzmarkt wird der Dollar Ende Oktober 2020 mit 8.000 L£ gehandelt. Der libanesische Staat ist mit 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) hochverschuldet. Als Folge des Währungsverfalls wird die Inflationsrate im Jahresdurchschnitt 2020 auf 85 Prozent geschätzt.
Indikator | 2019 | 2020 | Vergleichsdaten Deutschland 2019 |
---|---|---|---|
BIP (nominal, Mrd. US$) | 39,8 | 21,8 | 3.854,4 |
BIP pro Kopf (US$) | 6.055 | 3.282 | 46.385 |
Bevölkerung (Mio.) | 6,6 | 6,6 | 83,1 |
Wechselkurs (Jahresdurchschnitt, 1 Euro = Libyscher Dinar (LD) | 1.569 | - | - |
Corona hat Libanon besonders hart getroffen, da der Tourismus vor allem in den Sommermonaten aus den Golfländern eine wichtige Einnahmequelle ist. Im Juni 2020 lagen die Ankünfte am Flughafen Beirut nur bei rund 7.000 Passagieren, während in den Sommermonaten normalerweise regelmäßig 400.000 bis 500.000 Fluggäste monatlich verzeichnet werden.
Die verheerende Explosion von 2.500 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut am 4. August 2020 war dann der vorläufige Höhepunkt. Neben mindestens 220 Toten und 7.000 Verletzten hat die Katastrophe auch kritische Infrastruktur an Libanons wichtigstem Hafen zerstört und noch etwaig vorhandenes Restvertrauen in die Kompetenz der Regierung hinweggefegt.
Langfristplanungen sind im Libanon derzeit kaum möglich. Die Bruttoanlageinvestitionen sinken 2020 um 16 Prozent (Schätzung Economist Intelligence Unit, EIU). Eine neue Regierung soll nach Konstituierung über Finanzhilfen des IWF und anderer Geber über 9 Milliarden US$ verhandeln. Diese werden an die Bedingung von Wirtschaftsreformen gekoppelt sein. Internationale Akteure wollen allerdings mit diesem Hebel auch politischen Einfluss nehmen, um Druck auf wichtige Parteien wie zum Beispiel die Hisbollah auszuüben.
Elektrizitäts- und Wasserversorgung sind in einem kritischen Zustand und benötigen dringend ein stabiles Umfeld und erhebliche Investitionen, um den aufgelaufenen Stau von jahrzehntelanger Vernachlässigung abzubauen. Mit Israel wurden Anfang Oktober Verhandlungen über Grenzstreitigkeiten vereinbart. Umstritten sind vor allem Hoheitsrechte vor der Küste beider Länder, wo sich Gasvorkommen befinden, die bereits von Israel ausgebeutet werden. Wer und mit welchem Mandat auf libanesischer Seite verhandelt, ist noch unklar. Eigenes Gas würde Libanons extreme Abhängigkeit von Energieimporten verringern.
Projektbezeichnung | Investitionssumme (Mio. US$) | Projektstand | Projektträger |
---|---|---|---|
MOG - Mellitah Complex Expansion & CO2 Management Integrated Development Project | 1.868 | FEED *) | Mellitah Oil & Gas BV |
MOG - New Production Platform: Structure E (PPE) | 1.866 | FEED | Mellitah Oil & Gas BV |
MOG - New Production Platform: Structure A | 1.866 | FEED | Mellitah Oil & Gas BV |
GECOL - Tripoli IWPP | 1.100 | Studie | General Electricity Company Of Libya |
GECOL - Benghazi South IWPP | 1.000 | Studie | General Electricity Company Of Libya |
GECOL - 1320 MW New South Tripoli Gas-Fired Power Plant | 750 | Ausführung | General Electricity Company Of Libya |
GECOL - Zueitina IWPP | 500 | Studie | General Electricity Company Of Libya |
WOC - North Gialo Field Development | 500 | FEED | Waha Oil Company |
WOC – NC-98 Gas Field Development | 500 | FEED | Waha Oil Company |
Mellitah Oil & Gas BV (MOG) - Bahr Essalam Development Project Phase II | 470 | FEED | Mellitah Oil & Gas BV |
Informationen zu aktuellen geberfinanzierten Projekten bietet die GTAI-Länderseite, Rubrik „Ausschreibungen“ und „Entwicklungsprojekte“.
Der private Konsum ist im freien Fall. Für 2020 wird von der EIU ein Rückgang von 25 Prozent vorhergesagt. Für viele Haushalte geht es darum, Brot auf den Tisch zu bringen. Die Corona-Maßnahmen der Regierung haben die Geschäftstätigkeit hart getroffen, viele haben ihre ohnehin prekäre Beschäftigung verloren. Kritisch für die Versorgungslage im Land sind die Überweisungen der Auslandslibanesen. Ohne diese Transfers wäre Libanon schon längst zusammengebrochen. Zwischen Oktober 2018 und September 2019 betrugen die Netto-Überweisungen der Auslandslibanesen rund 3 Milliarden US$ oder etwa 5 Prozent des BIP.
Neben der Finanzkrise wird der Außenhandel auch durch die Schäden am Hafen von Beirut stark beeinträchtigt. IWF-Schätzungen zufolge wird die Wareneinfuhr 2020 um rund 40 Prozent zurückgehen. Der Warenexport soll um 17,5 Prozent schrumpfen. Als stark importabhängiges Land, besonders bei Lebensmitteln, hat Libanon traditionell eine stark negative Handelsbilanz, die teilweise durch einen positiven Beitrag der Dienstleistungsbilanz (Tourismus, Gastarbeiterüberweisungen) ausgeglichen wird. EIU schätzt den Rückgang der Wareneinfuhren für 2020 noch höher als der IWF ein. Nach 17,8 Milliarden US$ 2019 werde der Import 2020 auf 8,8 Milliarden US$ kollabieren. Durch den Kollaps der Wareneinfuhren wird sich das Defizit der Leistungsbilanz 2020 auf geschätzte 16,3 Prozent des BIP verringern nach einem Wert von 27,4 Prozent im Vorjahr 2019.
2019 | 2020 | Veränderung 2019/2020 | |
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Importe | 16,5 | 11,6 | -29,7 |
Exporte | 25,7 | 8,5 | -66,9 |
Handelsbilanzsaldo | 9,1 | -3,1 | - |