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TürkeiKonjunktur / Investitionsklima / Kaufkraft, Konsumverhalten / Außenhandel, Struktur
Wirtschaftsumfeld
Wirtschaftsausblick | Türkei
Die Türkei erholt sich 2021 voraussichtlich vom Corona-Schock. Abwärtsrisiken bilden die zweite Corona-Welle, der Währungsverfall, die drohende Zahlungsbilanzkrise und strukturelle Probleme.
10.12.2020
Von Katrin Pasvantis | Istanbul
Die Türkei wird das laufende Jahr 2020 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung abschließen. Nach einem lockerungsbedingt starken Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) im 3. Quartal 2020 um 6,7 Prozent, verlangsamt sich das Wachstum in den Wintermonaten, bevor es ab Mitte 2021 wieder aufwärtsgehen wird.
Die türkische Wirtschaft ist wegen ihrer starken Einbindung in internationale Lieferketten den Folgen der Pandemie in starkem Maße ausgesetzt. Dazu kommt die hohe Abhängigkeit vom Tourismus, der von der Krise stark betroffen ist (siehe zur Entwicklung einzelner Branchen die Publikation Branchencheck).
Außerdem musste sich das Land noch geschwächt von der Wirtschaftskrise 2018 den Folgen der Pandemie stellen. Die ausufernde expansive Wirtschaftspolitik der letzten Jahre begrenzt den Handlungsspielraum der Regierung für weitere Maßnahmen zum Ankurbeln der Konjunktur.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert in seinem Oktober-Report für 2020 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um real 5 Prozent und für 2021 einen Anstieg um 5 Prozent. Allerdings bestehen hohe Risiken, etwa durch die zweite Infektionswelle. Wegen der hohen Exportabhängigkeit hängt die positive Prognose auch von der erwarteten Erholung wichtiger Absatzmärkte wie EU, Vereinigtes Königreich und USA ab.
Das Risiko einer Zahlungsbilanzkrise steigt. Investoren mahnen bereits seit längerem strukturelle Reformen an und ziehen Kapital ab. Die Währungsreserven sind niedrig und drohen weiter zu sinken. Die Inflation ist hoch und die türkische Lira (TL) hat stark an Wert verloren.
Im November 2020 besetzte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Posten des Finanzministers und des Chefs der Zentralbank neu. Erdogan erklärte, er werde der Zentralbank vorläufig freie Hand lassen, um den Kursverfall der Lira zu stoppen und kündigte strukturelle Reformen an, um Investitionen anzukurbeln. Die Zentralbank erhöhte den Leitzins von 10,25 Prozent auf 15 Prozent und die Lira erholte sich etwas. Es bleibt abzuwarten, wie die Zentralbank weiter agiert und wie der Markt dies bewertet. Zumal der höhere Zins Erdogans präferierter Politik niedriger Zinsen zuwiderläuft.
Die schwache Lira verteuert Importe und die Rückzahlung internationaler Kredite und somit die Durchführung von Projekten. Sie vergünstigt aber auch die türkischen Exporte. Positiv wirkt sich zudem der Ölpreisverfall aus, da die Türkei in hohem Maße auf Energieimporte angewiesen ist.
Im Mai konnte die Türkei ihre Forex-Liquidität durch eine Erhöhung ihres Swap-Limits mit Katars Zentralbank vom Gegenwert von 5 Milliarden auf 15 Milliarden US$ verbessern (Forex-Swaps sind ein zweiseitiges Finanzmarktgeschäft, das den Tausch von zwei Währungen beinhaltet).
Indikator | 2018 | 2019 | Vergleichsdaten Deutschland 2019 |
---|---|---|---|
BIP (nominal, Mrd. US$) | 784 | 761 | 3.854,4 |
BIP pro Kopf (US$) | 9.693 | 9.213 | 46.385 |
Bevölkerung (Mio.) | 82,0 | 83,0 | 83,1 |
Wechselkurs (Jahresdurchschnitt, 1 US$ = ... Türkische Lira) | 4,83 | 5,67 | - |
Das Investitionsklima ist eingetrübt. Nachfrageeinbrüche, Finanzierungsschwierigkeiten und instabile Rahmenbedingungen werden auch 2021 voraussichtlich die Umsetzung von Projekten bremsen. Die Unternehmen investierten bereits vor der Coronakrise eher zurückhaltend und die Pandemie hat die Situation verschärft. Außerdem verteuert die Währungsabwertung Finanzierungen im Ausland. Der Staat versucht mit zinsgünstigen Krediten gegenzusteuern. Im November hat die Zentralbank jedoch den Leitzins deutlich erhöht. Viele Projekte werden aufgeschoben oder auf den Prüfstand gestellt. Nennenswerte neue große Industrieprojekte sind derzeit nicht geplant. Der katarische Staatsfonds kaufte im November Anteile an der türkischen Börse und am Istanbuler Einkaufszentrum Istinye Park.
Projektbezeichnung | Investitionssumme (Milliarden Euro*) | Projektstand/Projektträger |
---|---|---|
Kernkraftwerk Akkuyu (Rosatom) | 20,0 | Im Bau; Geplante Fertigstellung: 2023 / Akkuyu Nükleer |
Integriertes Bergbau- und Stahlprojekt | 5,6 | In Vorbereitung, staatliche Förderung / Tosyali-Holding |
Petrochemiewerk | 5,6 | In Vorbereitung, staatliche Förderung / SASA |
Batterienwerk für Elektrofahrzeuge | 3,7 | In Vorbereitung; Fertigstellung bis 2023 geplant / Zorlu-Holding, Türkei, GSR Capital, China |
Elektroautowerk (TOOG) | 3,5 | Design, FEED; geplante Ausschreibung Januar 2021 / TOOG, Berater: Armada Mühendislik |
Petrochemiewerk für Polyethylen und Polypropylen | 3,1 | In Planung, staatliche Förderung / MetCap Enerji (Türkei) und Fusion Dynamics (Katar) |
Financial Center Istanbul | 2,2 | Laufende Arbeiten, Fertigstellung bis Anfang 2022 / Turkish Wealth Fund |
Polypropylen-Werk in Adana | 1,3 | Technologie- und Lizenzverträge im September 2019 unterzeichnet; Baubeginn Ende 2020; geplante Fertigstellung 2023 / Rönesans Holding (Türkei), Sonatrach (Algerien), GS E&C (Südkorea) |
Informationen zu aktuellen Geber-finanzierten Projekten unter www.gtai.de/tuerkei, „Ausschreibungen“ und „Entwicklungsprojekte“.
Die hohe Inflation, die gesunkene reale Kaufkraft der Verbraucher und die Ansteckungsgefahr im öffentlichen Raum schränken die Möglichkeiten zum Kauf ein. Viele Haushalte verzeichnen Einkommenseinbußen, etwa durch Kurzarbeit, oder müssen um ihre Arbeitsplätze fürchten. Die Währungsschwäche und hohe Volatilität der türkischen Lira verstärken die Unsicherheiten. Die Leitzinserhöhung im November dürfte den Konsum ebenfalls bremsen.
Zur Bekämpfung der zweiten Corona-Welle hat die Regierung wieder striktere Maßnahmen wie zeitweise Ausgangssperren eingeführt, die die Kauflaune trüben. Seit 1. Dezember gilt werktags ein Ladenschluss um 21 Uhr und an den Wochenenden können Einzelhändler ihre Kunden nur noch beliefern. Einkaufszentren dürfen innerhalb der Regelungen diesmal geöffnet bleiben. Der Onlinehandel hat Berichten zufolge zugelegt, allerdings ausgehend von einem recht niedrigen Niveau. Die hohen Umsatzeinbußen der Händler dürfte der E-Commerce nur in geringem Umfang auffangen.
Die Türkei wird 2020 voraussichtlich mit einer starken Ausweitung des Handelsbilanzdefizits abschließen. Die Exporte gehen deutlich zurück. Die Importe sind noch in etwa auf dem Vorjahresniveau. Die Rezession und der schwache Wechselkurs der türkischen Lira dämpfen die Importnachfrage. Gleichzeitig ist ein Preiseffekt durch den Einbruch der Ölpreise zu beobachten, insbesondere bei den Einfuhren aus Russland.
2018 | 2019 | Januar bis September 2020 | Veränderung*) | |
---|---|---|---|---|
Importe | 231,2 | 210,3 | 156,2 | 1,5 |
Exporte | 177,2 | 180,8 | 118,3 | -10,9 |
Handelsbilanzsaldo | -54,0 | -29,5 | -37,9 | - |
Die deutschen Lieferungen stiegen der türkischen Statistik zufolge in den ersten neun Monaten 2020 um 6 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 14,7 Milliarden US$. Deutschland war nach der VR China (16,4 Milliarden US$, +19,4 Prozent) das zweitwichtigste Lieferland der Türkei, vor Russland (12,8 Milliarden US$, -24 Prozent). Die Türkei will Importe durch lokale Produktion substituieren. Der Protektionismus wird voraussichtlich durch die Pandemie zunehmen.
Die Exporte in die USA würden wahrscheinlich stark zurückgehen, sollte der neue Präsident Joe Biden schon länger angekündigte Sanktionen gegen die Türkei durchsetzen.