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Special | EU | 20 Jahre EU-Osterweiterung

Mittelosteuropa: Sternstunde einer Wachstumsregion

Großer Binnenmarkt, einheitliche Standards, offene Grenzen: Die EU-Mitgliedschaft Mittelosteuropas hat viele Vorteile gebracht. Und die Wachstumsregion hat weiter großes Potenzial.

Von Fabian Möpert | Berlin

Es war ein historischer Meilenstein für Europa: Im Mai 2004 traten der EU gleich zehn Länder bei. In der bis dato größten Erweiterungsrunde wurden Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn sowie Slowenien EU-Mitglied, ebenso Malta und Zypern. Schrittweise Erweiterungen folgten mit Bulgarien und Rumänien im Jahr 2007 sowie zuletzt Kroatien 2013. Der freie Verkehr für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen erstreckte sich fortan auf die Neumitglieder, der Binnenmarkt wuchs allein 2004 um rund 75 Millionen Menschen.

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Vor allem mit Deutschland sind die Länder mittlerweile wirtschaftlich eng verbunden. Tschechische Kfz-Teile sind in deutschen Autos verbaut, estnische Software vereinfacht das Leben europäischer Verbraucher, deutsche Maschinen stehen in Polens Fabriken.

Warenhandel seit 2004 mehr als verdreifacht

Der Warenhandel zwischen Deutschland und den acht EU-Ländern in Mittelosteuropa ist seit 2004 um 255 Prozent gewachsen. Ausfuhren und Einfuhren summierten sich 2023 auf fast 419 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Mit China handelte Deutschland 2023 Waren im Wert von rund 253 Milliarden Euro, mit den USA im Wert von rund 252 Milliarden Euro. Der Anteil der acht Länder am deutschen Außenhandel ist in den zwei Jahrzehnten um etwa die Hälfte gestiegen gestiegen – auf über 14 Prozent im Jahr 2023.

Allein die Visegrád-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn (V4) kauften zusammen 2023 deutsche Waren im Wert von fast 191 Milliarden Euro. Damit bilden sie den Grundpfeiler im deutschen Export nach Mittel- und Osteuropa. Der deutsche Markt wiederum ist für die V4-Länder von zentraler Bedeutung. Mit Anteilen zwischen 20 und 30 Prozent an ihren Gesamtausfuhren ist die Bundesrepublik Exportziel Nummer 1.

Insbesondere die deutschen Investitionsgüterhersteller und die Automobilbranche haben von der Erschließung neuer Märkte im Osten der EU profitiert. Aber auch deutsche Einzelhandelsketten sind in der Region flächendeckend vertreten.

Die EU-Erweiterung nach Osten hat deutschen Unternehmen geholfen, in einem zunehmend wettbewerbsintensiveren globalen Umfeld neue Absatzmärkte zu erschließen und günstigere Standorte in ihre Produktionsketten zu integrieren. Davon haben auch die Beschäftigten in den Stammwerken in Deutschland profitiert, weil die Unternehmen dadurch wettbewerbsfähiger wurden.

Philipp Haußmann Stellvertretender Vorsitzender des Ost-Ausschusses und Vorstandssprecher der Ernst Klett AG

EU-Mitgliedschaft ist Standortvorteil

Einen nicht unerheblichen Anteil an den grenzüberschreitenden Warenströmen hat der unternehmensinterne Handel. Deutsche Betriebe haben in den östlichen EU-Ländern viele Niederlassungen aufgebaut, oft im produzierenden Gewerbe. Der kumulierte Bestand deutscher Direktinvestitionen in den acht 2004 beigetretenen mittelosteuropäischen Staaten belief sich 2021 laut Bundesbank auf gut 97 Milliarden Euro.

Die Übernahme von EU-Recht hat die Rechtssicherheit für ausländische Firmen gestärkt. Laut Konjunkturumfrage der deutschen Auslandshandelskammern für Mittel- und Osteuropa von 2023 war für mehr als zwei Drittel der befragten Firmen die EU-Mitgliedschaft ein maßgeblicher Standortfaktor.

Arbeitskräfte nutzen Freizügigkeit

Mehr als 830.000 Menschen aus den im Jahr 2004 beigetretenen EU-Ländern arbeiteten Ende September 2023 laut Bundesagentur für Arbeit sozialversicherungspflichtig in Deutschland. Knapp zwei Drittel davon stammen aus Polen. Sie stellen inzwischen die zweitgrößte Gruppe aller ausländischen Beschäftigten in Deutschland dar. Unter Berücksichtigung von Bulgarien, Rumänien und Kroatien kommen sogar mehr als 1,7 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte aus den seit 2004 beigetretenen EU-Ländern. Das sind zusammen 5 Prozent aller bundesweit Beschäftigten. Der Anteil ausländischer Beschäftigter insgesamt lag bei 15,3 Prozent. Damit kommt jede dritte sozialversicherungspflichtige Arbeitskraft mit ausländischem Pass aus dem Osten der EU.

Aufgrund der anfangs deutlich niedrigeren Löhne in den Beitrittsländern befürchteten Industrie, Handel und Handwerk in Deutschland zunächst eine Konkurrenz durch billige Arbeitskräfte. Heute fällt die Gesamtbilanz positiv aus. Laut Jörg Dittrich, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), mussten die grenznahen Regionen durch die Osterweiterung zwar Anpassungsprozesse bestehen, profitieren aber heute von den Vorteilen des Binnenmarktes. "Großen Anteil daran haben die Einwanderung und der erleichterte Pendelverkehr von Fach- und Arbeitskräften aus den Nachbarländern", sagt Dittrich im Interview mit Germany Trade & Invest (GTAI).

EU-Gelder unterstützen die Konvergenz

Die damaligen EU-Neulinge haben sich seit 2004 dynamisch entwickelt: Ihr Bruttoinlandsprodukt (BIP) wuchs seit dem Beitritt doppelt so schnell wie im EU-Durchschnitt. Länder wie Lettland oder Litauen haben sich in weniger als einer Generation von einem BIP pro Kopf von nur 30 bis 40 Prozent des Niveaus der alten Mitgliedstaaten auf heute 70 bis 85 Prozent hochgearbeitet. Tschechien und Slowenien sind wirtschaftlich inzwischen annähernd gleichauf mit manchen westeuropäischen Volkswirtschaften. "Dies ist eine bemerkenswerte Leistung und spricht Bände über den Nutzen der EU-Erweiterung für die Neumitglieder", berichtet Zuzana Zavarská vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) im Gespräch mit GTAI.

Neben der Integration in den Binnenmarkt haben auch Fördermittel der EU zum Konvergenzprozess beigetragen. So flossen laut Daten der Europäischen Kommission im Zeitraum 2007 bis 2020 allein aus den Struktur- und Kohäsionsfonds rund 269 Milliarden Euro in die acht Länder, weitere Instrumente noch nicht einbezogen.

Brüssel setzt Impulse zur Modernisierung

Die EU-Mitgliedschaft bleibt ein wichtiger Motor für die wirtschaftliche Modernisierung Mittelosteuropas, sowohl in regulatorischer als auch in finanzieller Hinsicht. EU-Fördergelder unterstützen die Investitionsanstrengungen der Region, um grüner, digitaler und innovativer zu werden.

Mit dem "Green Deal" stehen die EU-Länder vor einer anspruchsvollen Agenda zur Dekarbonisierung. Das Ziel, die CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent zu senken, wird den emissionsintensiven mittelosteuropäischen Ländern nur mit enormen Investitionen gelingen. Der Bedarf reicht von moderner Kraftwerkstechnik über intelligente Produktionsverfahren bis hin zu Lösungen für nachhaltige Mobilität. Schlüsselbranchen stehen vor einem Strukturwandel, der Automobilbau rüstet auf Elektromobilität um.

Von 2021 bis 2027 erhalten die acht Länder zusammen mindestens 201 Milliarden Euro aus den Struktur- und Kohäsionsfonds sowie dem Wiederaufbaufonds. Obendrauf kommen Gelder aus weiteren Instrumenten wie dem Modernisierungsfonds. Die Mittel finanzieren den Ausbau regenerativer Energiequellen, unterstützen innovative Unternehmen und ein praxisorientiertes Bildungswesen, sie helfen beim Erneuern von Infrastruktur oder fördern Forschungskooperationen.

Deutschen Anbietern von Maschinen, Ausrüstungen, technologischen Lösungen oder Planungsleistungen eröffnet all das weiterhin ein breites Spektrum an Geschäfts- und Kooperationsmöglichkeiten. Der Osten der EU erlebt außerdem als bewährter und zuverlässiger Beschaffungsmarkt gerade eine Renaissance.

Das nächste Kapitel der Erweiterung 

Vor den Toren der EU stehen die Länder des Westbalkans und weitere Kandidaten bereit, um sich stärker in Europas Wertschöpfungsketten zu integrieren. Ob und wann sie den Schritt zum EU-Mitglied vollziehen können, bleibt abzuwarten. "Künftige Beitrittsländer müssen gut gewappnet sein, um dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten und den rechtlichen Besitzstand der EU umzusetzen", sagt Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Interview mit GTAI.

Die europäische Gemeinschaft steht angesichts der aggressiven Politik Russlands und der wachsenden Einflussnahme Chinas vor Herausforderungen. Sie muss den Kandidatenländern in ihrer östlichen Nachbarschaft dringend reale Perspektiven eröffnen und weitere Kapitel in den Beitrittsverhandlungen aufschlagen.

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