
Special | Ostmitteleuropa | Produktionsstandorte
Die Visegrád-Staaten: Dynamische Produktionshubs im Osten der EU
Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn gehören auch dank ausländischer Investitionen zu Europas industriellem Kern. Um Wachstumsstar zu bleiben, muss die Region innovativer werden.
25.06.2025
Von Christopher Fuß, Kirsten Grieß, Fabian Möpert, Gerit Schulze | Warschau, Budapest, Berlin, Prag
Der deutsche Haushaltsgerätehersteller BSH zieht um – aus Rzeszów im Südosten Polens in den Nachbarort Rudna Wielka. Der alte Standort ist zu klein geworden. Ab Sommer 2026 wird die neue Fabrik Kaffeeautomaten und Akkustaubsauger für Kunden weltweit produzieren. BSH ist nicht das einzige internationale Unternehmen, das in Ostmitteleuropa für Exportmärkte produziert.
Das exportstarke Länderquartett aus Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn ist ein wichtiges Produktionszentrum Europas. Alle vier Länder, oft als Visegrád-Staaten (V4) zusammengefasst, charakterisiert die verarbeitende Industrie. Auf sie entfällt jeweils knapp ein Fünftel der Bruttowertschöpfung oder mehr. Ausländische Direktinvestitionen (FDI) tragen maßgeblich dazu bei. Zahlreiche internationale Unternehmen, darunter viele deutsche Firmen, haben vor Ort Fabriken aufgebaut. Diese bedienen oft Exportmärkte in Westeuropa, aber auch die lokale Nachfrage in der Region.
Das illustriert der deutsche Automobilzulieferer Kirchhoff, der seit Ende der 1990er Jahre in Polen produziert: "Im Wesentlichen bedienen wir von Polen aus unsere Kunden in Europa, zum Beispiel Volvo in Schweden. In Polen beliefern wir die Produktionsstätten von VW in Poznań oder Fiat und Opel in Südpolen. Hier haben wir logistische Vorteile, weil unsere Werke in der Nachbarschaft liegen", sagt Arndt G. Kirchhoff, Aufsichtsratsvorsitzender von Kirchhoff, im Interview mit Germany Trade & Invest.
Investitionstrends: FDI-Bestand seit 2019 um gut ein Drittel gewachsen
Zwischen 2019 und 2023 erhöhte sich den jeweiligen Zentralbanken zufolge der Gesamtbestand an FDI in den V4-Staaten um etwa ein Drittel auf knapp 680 Milliarden Euro. Polen als größter Einzelmarkt der Region verzeichnete mit plus 40 Prozent die stärkste Dynamik im FDI-Bestand insgesamt.
Der kumulierte Bestand aller deutschen Direktinvestitionen in den vier Ländern belief sich laut ihrer Zentralbanken 2023 auf über 100 Milliarden Euro. Deutschland ist vom Gesamtbestand her größter ausländischer Investor in Ungarn, zweitgrößter in Polen, drittgrößter in Tschechien und viertgrößter in der Slowakei.
Im verarbeitenden Gewerbe Polens wuchs der Bestand zwischen 2019 und 2023 um 29,2 Prozent auf 91,7 Milliarden Euro. Wichtigste Zielbranchen sind die Nahrungsmittelindustrie (16 Prozent), die Kfz-Herstellung (15 Prozent) und Metallverarbeitung (13,1 Prozent). An erster Stelle der Direktinvestoren im verarbeitenden Gewerbe steht Deutschland mit über einem Fünftel des Bestands. Wenn internationale Unternehmen heute in Polen investieren, handelt es sich seltener um Neuansiedlungen: Laut polnischer Zentralbank NBP machen Bestandserweiterungen inzwischen 60 Prozent aus.
Für Tschechiens verarbeitende Industrie ist Deutschland langjährig wichtigster Investor und stand 2023 hinter 16,5 Prozent des Kapitalstocks. Der gesamte Bestand im verarbeitenden Gewerbe Tschechiens wuchs zwischen 2019 und 2023 laut Zentralbank CNB um 22,9 Prozent auf rund 53 Milliarden Euro. Der deutsche Investitionsbestand stieg im gleichen Zeitraum sogar um 29,3 Prozent.
Asiatische Investoren sind in Ungarn auf dem Vormarsch
In der Slowakei steckt mit rund 19 Milliarden Euro etwa ein Drittel aller FDI im verarbeitenden Gewerbe. Ausländische Investoren sind besonders in der Kfz-Industrie aktiv. Mit Volvo Cars entsteht eine fünfte Autofabrik. Sie soll ab 2027 in Košice Elektroautos produzieren. Ansiedlungserfolge konnte die Slowakei zuletzt mit asiatischen Batterieproduzenten vorweisen. Das chinesische Unternehmen Gotion High-Tech will mit dem slowakischen Start-up InoBat eine Gigafactory bei Nitra bauen.
Besonders in Ungarn siedeln sich zunehmend asiatische Investoren an. Laut Investitionsförderagentur HIPA schaffte es China 2023 und 2024 jeweils auf den vordersten Platz bei den Kapitalzuflüssen. Diese rasante Entwicklung geht vor allem auf Großprojekte für Automobil- und Batterieproduktion zurück, darunter der chinesische Autobauer BYD in Szeged. Chinas Batteriehersteller CATL baut ein Werk in Debrecen, wo 2025 auch eine Autofabrik von BMW an den Start geht.
Zustrom von Direktinvestitionen setzt sich fort
Bei ausländischen Direktinvestoren erfreut sich die Region anhaltender Beliebtheit. Die Investitionsdatenbank fDi Markets der Financial Times listet für den Zeitraum 2022 bis 2024 insgesamt 412 begonnene Greenfield-Projekte oder Erweiterungsvorhaben in den vier Ländern. Davon zog es die Hälfte der Vorhaben (206) nach Polen. Dahinter folgen Ungarn (121), Tschechien (43) und die Slowakei (42).
In Ungarn galten die Projekte vorrangig der Kfz-Zulieferindustrie und der Elektronikbranche. In den drei anderen Ländern lag die Herstellung von Industrieausrüstungen an vorderster Stelle. In Polen bildet zusätzlich die metallverarbeitende Industrie einen Schwerpunkt.
Fokusbranchen: Ambitionen in der Robotik-, Mikroelektronik- und Pharmabranche
Das Erfolgsrezept des Quartetts basierte drei Jahrzehnte primär auf hoher Arbeitsproduktivität bei international wettbewerbsfähigen Kostenstrukturen. Wichtige Aspekte waren zudem die Verfügbarkeit von Fachkräften und Industrieflächen.
Mittlerweile sind niedrige Lohnkosten für die Region nicht mehr das entscheidende Standortkriterium. Der Trend, arbeitsintensive Fertigung weiterziehen zu lassen, passt zu den industriepolitischen Ambitionen der V4-Länder. Sie wollen in den Wertschöpfungsketten aufsteigen.
Freie Flächen auf der grünen Wiese werden vor allem in Tschechien rar. Deshalb hat Tschechien mit SIRS eine Agentur geschaffen, um Areale schlüsselfertig für Investoren aus innovativen und industriestrategisch wichtigen Sektoren zu erschließen. In den Fokus rücken dabei auch Brownfields. In ähnlicher Weise beginnt in der Slowakei das Regionalministerium, Industriebrachen zu kartieren, um sie für Ansiedlungen zu revitalisieren.
Erfolgsrezept neu erfinden
Bei FDI setzen alle vier Länder stärker auf Klasse statt Masse. Wettbewerbsfähigkeit will die Region vermehrt über Innovationen erhalten. Noch liegen die Aufwendungen dafür deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Im Global Innovation Index 2024 der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) schneidet unter den V4-Ländern Tschechien mit Platz 30 von 133 Ländern am besten ab. Dahinter folgen Ungarn (36), Polen (40) und die Slowakei (46). Zum Vergleich: Deutschland belegt Platz 9.
Anreize sollen FDI verstärkt in innovationsträchtige Aktivitäten mit hoher lokaler Wertschöpfung lenken. Zum Instrumentarium gehören meist Steuervergünstigungen und Investitionszuschüsse. Als strategische Branchen gelten oft die Robotik, Mikroelektronik, Pharmabranche sowie Elektromobilität. Die Kfz-Industrie ist besonders für Tschechien, die Slowakei und Ungarn strukturprägend. Entsprechend zentral ist dort die Transformation zu emissionsfreien Antrieben.
Dass die Bemühungen Wirkung zeigen, verdeutlicht etwa Polen: "Das Land entwickelt sich zu einem Produktionszentrum für komplexe und anspruchsvolle Waren", sagt Leo Mausbach, Standortberater bei der AHK Polen. Er beobachtet, dass mehr internationale Investoren eine Abteilung für Forschung und Entwicklung aufbauen. Ähnlich ist der Trend in den drei anderen Ländern.
Treiber und Risiken: EU-Mitgliedschaft als wichtiger Standortvorteil
Ein grundlegender Vorzug bleibt die EU-Mitgliedschaft. Sie garantiert Rechtssicherheit. Die Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarkts erleichtern europäischen Investoren viele Geschäftsprozesse. Außereuropäischen Investoren erschließt die Präsenz uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt mit etwa 450 Millionen Menschen.
Ungarn etwa positioniert sich bei Investoren aus Fernost als Tor zur EU. Dank zentraler Lage und der Anbindung an wichtige Adriahäfen in Slowenien (Koper), Italien (Triest) und Kroatien (Rijeka) eignet sich das Land als logistisches Drehkreuz, auch für den Weitertransport in westeuropäische Absatzmärkte.
Bei deutschen Investoren punkten die V4-Länder neben geografischer und kultureller Nähe mit guter Infrastruktur. Deutsche Firmen treffen auf qualifizierte und technikaffine Fachkräfte und profitieren vom dichten Netz an industriellen Zulieferern. Die Wirtschaftsstrukturen sind in vielen Zweigen komplementär zu Deutschland.
In den V4-Ländern plagt Unternehmen indes der Fachkräftemangel. Er entwickelt sich zum limitierenden Faktor, trägt zum Lohnauftrieb bei, treibt parallel aber die Automatisierung von Produktionsprozessen voran. Die Arbeitskosten pro Stunde im verarbeitenden Gewerbe liegen noch bei grob einem Drittel des deutschen Niveaus und der Hälfte des EU-Schnitts. Firmen mit preissensibler Produktion bei niedrigen Margen orientieren sich innerhalb Europas eher nach Rumänien und Bulgarien oder auf den Westbalkan, wo die Kosten tiefer liegen.
Institution | Anmerkung |
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AHK Polen | Anlaufstelle für deutsche Unternehmen in Polen |
PAIH - Polish Investment & Trade Agency | Polens staatliche Investitions- und Handelsagentur |
AHK Tschechien | Anlaufstelle für deutsche Unternehmen in Tschechien |
CzechInvest | Tschechiens nationale Investitionsförderagentur |
AHK Slowakei | Anlaufstelle für deutsche Unternehmen in der Slowakei |
SARIO - Slovak Investment and Trade Development Agency (SARIO) | Nationale Investitionsförderagentur der Slowakei |
AHK Ungarn | Anlaufstelle für deutsche Unternehmen in Ungarn |
HIPA - Hungarian Investment Promotion Agency | Ungarns nationale Investitionsförderungsagentur |
Investitionsgarantien des Bundes | Instrument zur Absicherung von Auslandsinvestitionen |