Start-ups in Polen

Von Christopher Fuß | Warschau

Die Gründerszene tummelt sich in Polen sowohl bei Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), Software und künstlicher Intelligenz (KI) als auch bei Technik und Ingenieurwesen. Als besonders chancenreiches Betätigungsfeld gilt zudem der Energiesektor. Dieser steht vor tiefgreifenden Transformationen. Neue Ideen sind insbesondere für erneuerbare Energien oder kleine Atomkraftwerke gefragt.

Erdölkonzern PKN Orlen bietet das meiste Wagniskapital 

Polens größten Corporate Venture Capital Fund legte der halbstaatliche Mineralölkonzern PKN Orlen S.A. auf. Er stellt laut PFR Ventures 95,6 Millionen Euro für Start-ups bereit. Tauron Polska Energia S.A. stellt 44,6 Millionen Euro, die Polnische Energiegruppe PGE S.A. 42,5 Millionen Euro und der Gaskonzern PGNiG S.A. 21,3 Millionen Euro an Wagniskapital zur Verfügung.

Tauron Progres ist eine Plattform zur Kooperation zwischen Unternehmen und Start-ups. Dort listet der Energiekonzern Tauron Bereiche auf, die für ihn von besonderem Interesse sind wie Smart-Home- und Smart-City-Anwendungen, Elektromobilität und Ladestationen oder das Feld Smart Grids. In Wettbewerben wählt er die besten Ideen aus, von denen er etliche auch anwendet. So kooperiert Tauron beispielsweise mit Payticon beim Thema Integration von intelligenten Hausgeräten und -ausrüstungen oder mit der Firma S-Labs für intelligente Stecker.

Baugewerbe sucht innovative Lösungen

Energieeffizienz ist neben weiteren Themen auch im Bausektor gefragt. Auf die Start-up-Challenge des führenden Baukonzerns Budimex S.A. reagierten annähernd 40 Start-ups. Den ersten Platz gewann die Firma Surveily. Sie entwickelt digitale Lösungen, um das Zusammenwirken von Bauarbeitern und Maschinen zu überwachen. Zudem sollen mit künstlischer Intelligenz Kollisionen vorhergesehen und Arbeitsunfälle verhindert werden. Budimex unterstützt Surveily dabei, die Neuentwicklung praktisch anzuwenden, häufig der schwierigste Schritt für Start-ups. Eine zweite Ausgabe des Wettbewerbs soll folgen.

Warschau wichtigster Standort

Im Ranking der wichtigsten rund 1.000 Standorte für Start-ups in rund 100 Ländern weltweit des Forschungszentrums Startupblink belegt Warschau 2022 den 106. Platz. Polens Hauptstadt liegt damit erkennbar vor anderen polnischen Metropolen wie Kraków (Krakau; Rang 186) und Gdańsk (Danzig; Rang 392), aber deutlich hinter Berlin (Rang 12).

Besonders viele Gründer aus dem Bereich Medizintechnologie gibt es in Oberschlesien, speziell in der Stadt Zabrze. Dort sind viele Ärzte, wissenschaftliche Institute und globale Konzerne ansässig. Mit Quantentechnologie befasst sich die Warschauer Universität, mit Raumfahrttechnologie der Inkubator Exea Smart Space in Toruń (Thorn).

Für Polens Gründerszene gibt es eine Reihe von Formaten, um sich auszutauschen und zu vernetzen. Die Tageszeitung Rzeczpospolita organisiert sporadisch Start-up-Konferenzen, auf denen Neuentwicklungen diskutiert werden. Gründer können ihr Start-up auch auf der Warsaw Industry Week für innovative Industrielösungen präsentieren, die vom 7. bis 9. November 2022 in Warschau (Ptak Warsaw Expo) stattfindet.

Inkubatoren und Acceleratoren, die zum Teil auf bestimmte Branchen oder Sektoren spezialisiert sind, unterstützen Start-ups.

Engpässe bei der Finanzierung

Polens Start-up-Szene hat im europäischen Vergleich weiter Nachholbedarf, insbesondere bei der Finanzierung. Die Verfügbarkeit von Wagniskapital verbessert sich allerdings stetig. Daran arbeitet auch der zur staatlichen Finanzgruppe Polski Fundusz Rozwoju (PFR; Polnischer Entwicklungsfonds) gehörende Fonds PFR Ventures. Er fördert den Ausbau des polnischen Wagniskapitelmarkts (Venture Capital; VC).

Im 4. Quartal 2021 sammelten 102 Start-ups laut PFR Ventures Wagniskapital im Gesamtwert von rund 400 Millionen Euro (ohne Megarunden) ein, der bisherige Quartalsrekord. Im 1. Quartal 2022 gewährten 101 in- und ausländische VC-Fonds 98 Start-ups eine Finanzierung im Wert von über 200 Millionen Euro.

Das Start-up-Ökosystem bekommt noch keine Krise zu spüren. Erste Anzeichen einer künftigen Eintrübung der Konjunktur sieht jedoch laut Rzeczpospolita der geschäftsführende Partner bei der SpeedUp Group, Tomasz Czapliński. VC-Fonds zeigten sich derzeit zurückhaltend bei der Finanzierung neuer Start-ups und konzentrierten sich auf bereits im Portfolio befindliche Unternehmungen. Zudem förderten sie verstärkt Firmen mit einem stabilen Fundament, die auch ohne weitere Finanzierung bestehen könnten.

Experten kritisieren die staatliche Förderung als unzureichend und bürokratisch. Auch Business Angels stellen zu wenig Kapital zur Verfügung. Laut der Warschauer Handelshochschule SGH, Cobin Angels und OVHcloud gibt es in Polen nur 680 aktive Angel Investors. Kapital und Know-how der Business Angels wird besonders in der Anfangsphase von Start-ups benötigt.

DocPlanner einziges Unicorn

Die beiden Spitzenplätze unter den Start-ups belegen Firmen, die digitale Terminvereinbarungen ermöglichen. Das bislang einzige Unicorn mit einer Marktbewertung von über 1 Milliarde US-Dollar war im August 2022 die Arzt-Patienten-Plattform DocPlanner. Sie hatte Anfang 2022 die führende deutsche Plattform jameda übernommen. 

Mit Booksy, einem Terminportal für Kosmetikerinnen und Frisöre, könnte bald ein zweites polnisches Start-up zum Unicorn aufsteigen. Weitere Kandidaten, die aufgrund ihrer hohen Marktbewertung als Top-Start-ups aufgelistet sind, haben ebenfalls das Potenzial dazu.

 

Erfolgreiche Start-ups sind unter anderem im Gesundheits- und Finanzwesen sowie im Digitalmarketing, bei Live-Chats und im Onlinehandel und zu finden. Happy Pack aus Kraków zum Beispiel integriert verschiedene Logistikanwendungen, was Paketshops die Kooperation mit großen Kurierfirmen erleichtert. Besonders stark ist Polen in der Gaming-Sparte, die dank der lebendigen Gründerszene international eine wichtige Rolle spielt und Erfolgsgeschichten wie "The Witcher" von CD Project vorzuweisen hat.

Von Beatrice Repetzki | Berlin